Bislang wurden den Patienten in einem chirurgischen Eingriff Elektroden implantiert und die elektrische Stimulation erfolgte anschließend im Rahmen eines vorab festgelegten Protokolls. Nicht berücksichtigt wurden individuelle Gegebenheiten wie auch der momentane elektrophysiologische Zustand des Gehirns. Seit einigen Jahren wurde an der Weiterentwicklung des Verfahrens gearbeitet, denn es ist bekannt, dass elektrophysiologische Zustände des Gehirns ständig wechseln und es Phasen gibt, in denen eine Hirnstimulation mehr Effekte hat als in anderen. Wenn zwei Knotenpunkte eines neuronalen Netzwerks miteinander kommunizieren und erregt sind, ist der therapeutische Effekt einer Stimulation höher als bei "Funkstille".
Die Echtzeitanalyse von Hirnoszillationen kann mittels Elektroenzephalographie (EEG) erfolgen, was die Entwicklung der hirnzustandsabhängigen Stimulation ("brain state dependent stimulation") ermöglicht hat. "Wir sind mittlerweile in der Lage, auch komplexere Hirnaktivitäten in Echtzeit auszulesen und auszuwerten", erklärt erklärt Prof. Ulf Ziemann, Präsident des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Diese technischen Möglichkeiten führten zur Entwicklung der sogenannten "closed loop"-Stimulation, die heute bereits vielfach zur Anwendung kommt. Dabei wird die augenblickliche Aktivität des Gehirns analysiert und für die Stimulation genutzt.
Eine erste Studie mit tiefer Hirnstimulation hat gezeigt, dass diese hirnzustandsabhängige Stimulation mit adaptiven Protokollen bei Parkinson-Patienten effektiver ist als die herkömmliche Stimulation mit vorab festgelegten Protokollen. In der Studie wurde ein Kerngebiet in den Basalganglien nur dann stimuliert, wenn ein bestimmter elektrophysiologischer Biomarker messbar war, die sogenannte Beta-Power, die ein direktes physiologisches Korrelat für die klinischen Kardinalsymptome des Morbus Parkinson (Unterbeweglichkeit und Steifigkeit) ist. Im Ergebnis waren die klinischen Effekte besser als bei der Dauerstimulation – bei insgesamt geringeren Stimulationszeiten.
Anfang September 2019 wurde der Startschuss für das vom Europäischen Forschungsrat geförderte Synergy-Projekt "ConnectToBrain" gegeben, das ein visionäres Ziel verfolgt. Derzeit wird zur transkraniellen Magnetstimulation eine 1-Kanal-Spule eingesetzt, so dass die Reizung auf einen Ort begrenzt ist. Bei Bedarf muss die Spule hand- oder robotergesteuert verschoben werden. "Das Gehirn ist aber ein hochkomplexes elektrisches Organ, das aus hunderten Millionen von Neuronen besteht und alle Hirnleistungen, die erbracht werden, sei es Sprache, Motorik oder Gedächtnis, beruhen auf einer in hohem Maße koordinierten, räumlich und zeitlich aufeinander abgestimmten Aktivität von Neuronen. Es reicht nicht, nur einzelne Knotenpunkte durch die Stimulation in ihrer Aktivität zu modulieren, wir wollen in die Lage kommen, alle Areale der gesamten Hirnrinde zu erreichen, auch parallel. Das würde uns ermöglichen, auch komplexe Netzwerkstörungen zu adressieren", erklärt Ziemann.
Patienten mit einer Alzheimer-Erkrankung weisen z.B. Netzwerkstörungen für Gedächtnisfunktionen auf und es ist bekannt, dass dabei viele Hirnregionen eine Rolle spielen, die mit der heutigen Technologie noch nicht adressiert werden können. Im Rahmen von "ConnectToBrain" soll eine helmartige Vorrichtung entwickelt werden, in die zahlreiche Reizspulen integriert werden (in der Endversion bis zu 50). Durch die Überlagerung von induzierten elektrischen Feldern aus der Zusammenschaltung einzelner Spulen könnte damit hochpräzise jeder Punkt des Kortexmantels angesteuert und stimuliert werden. Für die Patienten wäre das Verfahren vergleichsweise komfortabel, da im Gegensatz zur herkömmlichen tiefen Hirnstimulation kein chirurgischer Eingriff notwendig ist, der Schädel also nicht zur Platzierung der Elektroden aufgebohrt werden muss. Ob die komplexe, biointelligente Stimulation auch langfristig von außen funktioniert, ist allerdings noch fraglich.
MEDICA.de; Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.