Privatdozent Dr. Benedikt Schwaiger sitzt im OP-Vorraum der Neuroradiologie am Universitätsklinikum rechts der Isar. Durch eine große Glasscheibe hat er Sichtkontakt zum OP-Tisch, wo der leitende Oberarzt Privatdozent Dr. Tobias Boeckh-Behrens gerade beginnt, ein Aneurysma an der Arteria carotis interna zu embolisieren. Doch Dr. Schwaiger blickt lieber auf den Monitor, der vor ihm auf dem Tisch steht: Er hat sich testweise online in das verschlüsselte Übertragungssystem der Firma Tegus Medical eingeloggt und kann nun in Großaufnahme verfolgen, mit welcher Hand- und Fingerhaltung Dr. Boeckh-Behrens den filigranen Mikrokatheter durch die Windungen der Carotis an der Schädelbasis steuert. Möglich macht es eine hochauflösende Kamera, die auf einem Stativ hinter dem Interventionalisten steht und ihm über die Schulter blickt. Ein Mausklick, und die Kamera schwenkt und zoomt auf die Monitore mit den Röntgenbildern über dem OP-Tisch. Hier zeichnen sich deutlich die Titanspiralen ab, mit denen Dr. Boeckh-Behrens das Aneurysma zu füllen beginnt. "Die Bedienung ist sehr intuitiv“, sagt Dr. Schwaiger, der das Projekt zusammen mit Privatdozentin Dr. Uta Hanning vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf leitet. Wie die eFellows, die aus ihren jeweiligen Heimatkrankenhäusern zugeschaltet sind, kann Dr. Schwaiger die Erläuterungen des Operateurs hören und ihm Fragen stellen.
Nach dem Start mit vier Zentren und zehn Fellows wurde das Weiterbildungsprogramm in Zusammenarbeit mit der European Society of Minimally Invasive Neurological Therapy (ESMINT) 2022 auf acht Zentren – neben dem Universitätsklinikum rechts der Isar sind die Uniklinika Bonn, Heidelberg, Bochum, Ulm, Aachen und des Saarlandes sowie das Klinikum Dortmund beteiligt – und 30 Fellows ausgedehnt. "Das Feedback zur ersten Staffel des Projekts war hervorragend“, sagt Prof. Claus Zimmer, Ärztlicher Leiter der Abteilung für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie am Universitätsklinikum rechts der Isar und Präsident der DGNR. Die große Mehrheit der Teilnehmer*innen fühle sich sicherer in der Neurointervention als vorher.
Das kann Dr. Nikolas Teichert, Funktionsoberarzt am Uniklinikum Düsseldorf, nur bestätigen. Er hat in der ersten Staffel 18 Interventionen miterlebt. "Eingriffe, die ich vorher noch nicht gesehen habe“, seien darunter gewesen, berichtet Dr. Teichert. "Von den Erfahrungen, die ich da mitgenommen habe, werde ich viele Jahre lang profitieren.“ Dass er über den Tellerrand eines einzelnen Zentrums hinausschauen und die Arbeit mehrerer Koryphäen kennenlernen konnte, sei hilfreich gewesen. "Ich habe gesehen: Trotz aller Leitlinien und Standards, an die man sich in der Neuroradiologie hält, gibt es oft mehrere Wege, die zum Ziel führen. Das erweitert den Horizont.“ Dass er im Rahmenprogramm "viele Leute und Standorte kennengelernt“ hat, verbucht er ebenso als Gewinn wie die Möglichkeit, sich mit der Kamera umzusehen: "Wie sieht das denn aus bei denen auf dem Tisch? Welche Materialien benutzen die, und wie sind diese auf dem Tisch angeordnet? Das sind Dinge, die man auf Kongressen nicht gezeigt bekommt, die aber dann, wenn man an Patient oder Patientin steht, doch sehr relevant sein können.“ Vor allem aber: Seine Arbeit an der Klinik musste Dr. Teichert nicht unterbrechen. Zwar konnte er sich nicht für jeden Termin komplett ausklinken und musste so manche Intervention nebenher verfolgen, "aber Ärztinnen und Ärzte für so eine Fortbildung einfach auf die Reise zu schicken, wäre noch viel weniger möglich“. Livestreaming, so resümiert denn auch DGNR-Präsident Zimmer, werde "in Zukunft ein wichtiger Baustein bei der Ausbildung des interventionellen Nachwuchses sein“. Ein Fachgebiet, das gerade eine rasante technische Entwicklung erfährt.
Bis zu vier Teilnehmerinnen und Teilnehmer können sich im DGNR-Curriculum pro Sitzung einloggen. Wer die Kamera steuert, sprechen sie untereinander ab. Die Terminkoordination erfolgt per Chat. Das erlaubt es, neben langfristig terminierten Eingriffen auch kurzfristig anberaumte Interventionen, etwa bei Schlaganfallpatientinnen und Patienten, ins Programm zu nehmen.
Neben der Ausbildung verbessert die neue Technik auch die Patientensicherheit: So können beispielsweise die Diensthabenden am Wochenende bei einem Notfalleingriff schnell einen weiteren erfahrenen Operateur oder eine Operateurin zu Rate zu ziehen. "Früher hat man in solchen Fällen telefoniert, aber das eröffnet eine ganz neue Dimension“, sagt Dr. Boeckh-Behrens. Auch Proctoring, also die Anleitung von Interventionalistinnen und Interventionalisten durch erfahrene Kolleginnen und Kollegen, nützt Operateuren und Patientinnen und Patienten gleichermaßen. Bewährt hat sich der Livestream aus dem OP auch bei der Einführung neuer Materialien, die beinahe schon im Monatsrhythmus auf den Markt kommen. Statt ihre Instruktorinnen und Instruktoren auf Reisen zu schicken, setzten die Hersteller daher auf die Kameratechnik.
Und selbst Expertinnen und Experten können dank der Kamera noch etwas lernen: bei Joint Sessions, die neu ins Programm der zweiten Staffel aufgenommen wurden. "Einer angiografiert vor, und die anderen Zentren schauen zu“, beschreibt Dr. Schwaiger das Prinzip. Wenn Koryphäen aufeinandertreffen, erfordere das "einen sehr fairen Umgang miteinander“. Im Bereich der Interventionellen Radiologie funktioniere diese Art der digitalen Zusammenarbeit bereits sehr gut – alle sind sich bewusst, dass davon beide Seiten profitieren.
MEDICA.de; Quelle: Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München