Bei dieser zweiten Form von Kritikalität koordiniert sich ebenfalls eine große Anzahl von Nervenzellen, wie die Analyse der gleichzeitigen Aktivität von 155 Nervenzellen zeigt. Das Zusammenspiel umfasst hier allerdings nicht nur die gleichzeitige Aktivierung, sondern auch die gezielte Hemmung großer Gruppen von Neuronen. Die gefundene, neuartige Kritikalität erlaubt es dem Netzwerk, Signale in einer Vielzahl von Kombinationen aus aktivierten Neuronen zu repräsentieren und damit, so vermuten die Forscher, Information effizient parallel zu verarbeiten.
Zudem erklärt sich, warum von außen kein plötzlicher Anstieg der Netzwerkaktivität feststellbar ist. Standardverfahren wie EEG oder LFP addieren im Wesentlichen die Signale vieler Neurone; bei diesem zweiten kritischen Zustand bleibt die Zahl der aktiven Nervenzellen jedoch weitgehend konstant. Die heterogene Dynamik lässt sich mit diesen Verfahren daher nicht erfassen. Erst mit hochentwickelten mathematischen Methoden, die sie aus der statistischen Physik entlehnt haben, gelang es den Forschern unter der Leitung von Prof. Moritz Helias, experimentell überprüfbare Vorhersagen über die Korrelationen zwischen den Nervenzellen zu machen.
Für den direkten experimentellen Nachweis ihres in Theorie und Simulation vorhergesagten Netzwerkzustandes nutzten die Forscher um Erstautor Dr. David Dahmen die Expertise von Prof. Sonja Grün in der Analyse der gemeinsamen Aktivität vieler Nervenzellen.
"Der weitergehende Wert dieser Studie liegt für mich darin, dass es Prof. Helias und seinem Team gelungen ist, die in der Physik sehr erfolgreiche Methode der Feld-Theorie in der Neurowissenschaft zur Anwendung zu bringen und wir damit auf weitere Einsichten hoffen können", erklärt Institutsleiter Prof. Markus Diesmann (INM-6). Diesmann spielt eine tragende Rolle im europäischen Human Brain Project (HBP), einem der größten neurowissenschaftlichen Projekte weltweit, das die Arbeit von über 500 Forschern in 19 EU-Mitgliedsstaaten verbindet.
"Im HBP beschäftigen wir uns mit der Technologie, um große Teile des Gehirns mit all ihren Nervenzellen simulieren zu können. Diese Simulationen alleine schaffen aber noch keine Erkenntnis. Wir erhalten dann einfach simulierte Daten, die genauso kompliziert sind wie die Daten aus der Natur, allerdings können wir die Netzwerke viel gezielter verändern, als dies mit experimentellen Methoden möglich ist. Aber erst die kontrollierte Vereinfachung zu überschaubaren mathematischen Modellen mit wenigen Gleichungen gibt uns die Chance, die zugrunde liegenden Mechanismen zu verstehen", erläutert Diesmann.
MEDICA.de; Quelle: Forschungszentrum Jülich