Die Leber ist ein ganz besonderes Organ: Entfernt man ein Stück davon, wächst dieses rasch wieder nach, bis die ursprüngliche Größe der Leber erreicht ist. Schmerzhaft zu spüren bekam das der griechischen Mythologie zufolge Prometheus: Weil Zeus zornig auf ihn war, ließ er ihn an einen Felsen fesseln und schickte ihm täglich einen Adler, der ihm die Leber wegfraß – die umgehend wieder nachwuchs. Leider funktionierte das bei Prometheus besser als bei vielen Patientinnen und Patienten, erklärt Professor Ludovic Vallier, Stammzellforscher von der Universität Cambridge. "Die Leberzellen haben eine enorme Regenerationsfähigkeit. Wenn bei einer Operation die halbe Leber entfernt wurde, hat sie sich nach wenigen Wochen wieder vollständig regeneriert. Leider verliert die Leber diese Fähigkeit, wenn sie chronisch beschädigt ist, etwa nach einer Vergiftung, bei Diabetes oder bei Krebs. Dann hilft nur noch eine Organtransplantation.“ Doch weil weniger Spenderorgane zur Verfügung stehen als gebraucht werden, arbeitet Ludovic Vallier an alternativem Organersatz: Er nutzt menschliche induzierte pluripotente Stammzellen und Organoide aus erwachsenem Gewebe, um daraus Mini-Lebern für eine Vielzahl klinischer Anwendungen zu züchten.
820 Lebern wurden 2020 in Deutschland transplantiert. Genauso viele Patientinnen und Patienten warteten vergeblich auf ein Spenderorgan. Ihre Leber versagte aufgrund von Vergiftungen, chronischer Infektionen mit Hepatitis B oder C-Viren, Leberkrebs oder Lebermetastasen oder ernährungsbedingten Leberschäden. "Die häufigste Ursache für akutes Leberversagen ist eine Vergiftung mit Paracetamol bei Jugendlichen“, erzählt Vallier, "da geht es oft um wenige Tage, in denen Ersatz da sein muss. Bei chronischen Lebererkrankungen, wie der alkoholischen oder Übergewicht-bedingten Fettleber, die längerfristig zu Leberzirrhose führt, hat man etwas mehr Zeit, sich vorzubereiten. Aber die Krankheit im Endstadium erfordert dann ebenfalls eine Transplantation.“
In seinem Labor züchtet Ludovic Vallier Leberersatzgewebe aus Stammzellen und Organoiden: "Die Stammzellen haben wir aus Hautzellen des Patienten oder der Patientin selbst hergestellt. Wir versetzen die Hautzellen im Labor mit einem Cocktail aus vier Faktoren, das bringt sie dazu, sich wieder in Stammzellen zurück zu verwandeln.“ Für diese Methode hatte Shinya Yamanaka 2006 den Nobelpreis für Medizin erhalten. "Alternativ können wir auch dreidimensionale Organoide direkt aus Leberzellen aus menschlichem Gewebe produzieren.“ Die erhaltenen induzierten pluripotenten Stammzellen bzw. die Organoide behandeln die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit speziellen Cocktails aus Wachstumsfaktoren und Eiweißen. So entwickeln sich winzige Organoide aus Leberzellen, speziellen Immunzellen, Gallengängen und Blutgefäßen. Das Verhältnis richtig zu treffen, ist die Kunst bei der Organoidherstellung.
Um zu überprüfen, ob die Organoide tatsächlich auch im Empfänger funktionierten, verpflanzte das Team um Vallier die Minilebern zunächst in kranke Mäuse. Als die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sahen, dass die gezüchteten Organoide dort gut anwuchsen und die Funktion des geschädigten Organs übernahmen und die Mäuse gesund wurden, gingen sie einen Schritt weiter: Sie verpflanzten die Leber-Organoide in Lebern von Verstorbenen, die nicht für eine Transplantation geeignet waren. "Wir haben diese Lebern künstlich durchblutet und dadurch außerhalb des Körpers am Leben erhalten“, berichtet Vallier. "Und konnten beobachten, dass die gezüchteten Organoide Kontakt mit dem vorhandenen Gewebe aufnahmen und funktionierten.“ Dieses Experiment, in der Fachzeitschrift Science 2021 publiziert, gab Ludovic Vallier das Vertrauen, nun den nächsten Schritt zu wagen: Die Transplantation in Patientinnen und Patienten.
Genau das hat er sich für Berlin vorgenommen. Hier möchte er die Produktion der Organoide optimieren, damit sie sowohl in der Qualität als auch in der Menge für eine klinische Studie ausreichen. Dabei wird er vermutlich nicht für jeden Patienten und jede Patientin ein individuelles Organoid züchten. Vielmehr plant er, eine allgemein passende Stammzellinie zu verwenden, aus denen Organoide für verschiedenen Patienten hergestellt werden können. "Es wäre ein großer Erfolg, wenn wir mit Hilfe der Organoide die Lebensdauer der geschädigten Leber verlängern und die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten verbessern könnten“, sagt Vallier.
MEDICA.de; Quelle: Berlin Institute of Health in der Charité (BIH)