Trotz der diagnostischen Möglichkeiten, die die vollständige Sequenzierung des gesamten Genoms eröffnet, sind die molekularen Mechanismen vieler seltener Erkrankungen noch nicht aufgeklärt. Deren Kenntnis ist jedoch notwendig für eine fundierte Entscheidungsfindung und Beratung der Betroffenen und ihrer Familien, vor allem aber für die Suche nach neuen therapeutischen Ansätzen.
Einem internationalen Wissenschaftlerteam ist es jetzt gelungen, die genetische Ursache für eine solche spastische Bewegungsstörung aufzuklären. "Uns waren bei Kindern zweier Familien ähnliche, ungewöhnliche neurologische Beschwerden aufgefallen, die letztlich mit einer Lähmung der Beine einhergingen. Erst eine genetische Untersuchung ergab Hinweise auf eine mögliche gemeinsame Krankheitsursache", so Dr. Ralf Husain, Kinderneurologe am Zentrum für Seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Jena.
Bei der Suche kam der diagnostischen Exomsequenzierung, bei der sämtliche Protein-kodierende DNA-Sequenzen des menschlichen Genoms untersucht werden, eine besondere Bedeutung zu. "Diese Sequenzierung erlaubt nicht nur eine umfassende und effiziente Bewertung bekannter Krankheitsgene in der Routinediagnostik, sondern bei solchen ungelösten Fällen auch die Identifizierung weiterer möglicherweise krankheitsauslösender DNA-Varianten", erläutert der Humangenetiker Dr. Tobias Haack vom Zentrum für Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Tübingen. Bei allen Patienten zeigte sich dabei eine Veränderung am HPDL-Gen, das bislang nicht als krankheitsverursachend beschrieben war.
Die Wissenschaftler suchten dann nach weiteren Fällen mit ähnlichem Krankheitsbild und noch ungeklärter Ursache. Aufwendig glichen sie dafür klinische Daten und vorhandene genomische Datensätze ab. Im Rahmen einer internationalen Kooperation konnten sie schließlich 17 Betroffene aus 13 Familien weltweit identifizieren, die genau diese genetische Störung aufwiesen. Ralf Husain führte die verfügbaren klinischen Daten zusammen: "Erstaunlich war das breite Spektrum der neurologischen Symptome. Diese reichen von schweren Beeinträchtigungen der Gehirnentwicklung von Geburt an - mit Ähnlichkeiten zu mitochondrialen Erkrankungen, bis hin zu Bewegungsstörungen der Beine, die erst im Jugendalter einsetzten - im Sinne einer Hereditären Spastischen Paraplegie (HSP). Patienten mit diesem Gen-Defekt werden demzufolge je nach Alter sowohl von Kinderneurologen, als auch Neurologen behandelt."
MEDICA.de; Quelle: Universitätsklinikum Jena