Die Grippe ist ein saisonales Virus und tritt in unseren Breitengraden vor allem im Winter auf. Das Forschungsteam hatte deshalb die Idee, Wetterdaten wie Niederschlag, Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Sonnenstunden mit den täglichen Grippefällen zu vergleichen, die im Lauf von drei Jahren am Universitätsspital Lausanne (CHUV) behandelt wurden.
Das Team konzentrierte sich dabei nicht wie üblich auf die durchschnittlichen Grippefallzahlen pro Tag. Sein Interesse galt stattdessen den Extremwerten – und das ist neu am Ansatz. Zu diesen Spitzenzeiten besteht die Gefahr von Engpässen in Spitälern, falls die personellen Ressourcen nicht vorher aufgestockt werden. Daraus resultierte ein Modell, das aufgrund von Wetterdaten das Risiko einer Überlastung drei Tage im Voraus erkennt – so lang ist die Inkubationszeit bei der Grippe. "Anstatt den Spitälern einen Durchschnittswert für die zu erwartenden Fälle anzugeben, können wir ihnen mitteilen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Fallzahl erreicht wird, die ihre Kapazitäten übersteigen würde, was relevanter ist", erklärt Valérie Chavez, Statistikerin an der Universität Lausanne und Co-Autorin der Studie.
Wenn die Spitalverantwortlichen die Entwicklung dieser Wahrscheinlichkeit jeweils ab Herbst verfolgen, könnten sie die Spitzenbelastung durch Grippefälle und daraus resultierende Engpässe frühzeitig erkennen. Konkret gibt das Modell an, welche Fallzahlen mit einer Wahrscheinlichkeit von einem, fünf und zehn Prozent überschritten werden könnten. Ausserdem prognostiziert es die Anzahl Grippefälle, die innerhalb 10 oder 30 Tagen zu erwarten sein könnten. Wenn sich diese Werte nach oben bewegen, deutet dies darauf hin, dass eine Grippe-Epidemie auf einen Höhepunkt zusteuert. "Für die Spitäler ist das ein Warnsignal", erklärt die Forscherin.
Das Modell eignet sich auch für andere saisonale Viren, insbesondere Coronaviren und das Respiratory Syncytial Virus (RSV), das Atemwegsinfektionen bei Kleinkindern auslösen kann. Derzeit sind die Risikoeinschätzungen allerdings noch mit Unsicherheiten behaftet, weil die Daten des CHUV erst für drei Jahre ausgewertet wurden. Aufgrund fehlender Daten ist es auch noch nicht für Prognosen zu SARS-CoV-2 anwendbar. Stattdessen arbeitet das Forschungsteam nun bereits an Modellen, die neben den Wetterdaten auch die Ansteckungsprozesse der Viren beiziehen, um noch präzisere Prognosen zu machen.
Die Extremwerttheorie ist ein Teilgebiet der Statistik, bei dem in einem Datensatz die extrem grossen oder extrem kleinen Werte betrachtet werden. Indem die Wahrscheinlichkeit von Extremereignissen geschätzt wird, lassen sich Risiken beziffern. Die Theorie ist bereits bekannt aus der Hydrologie, wenn berechnet wird, wie hoch Dämme gegen Hochwasser sein müssen. "Es braucht unterschiedlich hohe Dämme, je nachdem, ob sie vor Überschwemmungen, die alle zehn Jahre auftreten, oder vor einem Jahrhunderthochwasser schützen sollen. Für einen Schutz auf unbeschränkte Zeit würde analog eine unendliche Höhe resultieren", veranschaulicht Valérie Chavez. Nützlich ist diese Statistiktheorie zum Beispiel auch in der Finanzwelt, wenn die Gefahr für einen Börsencrash geschätzt werden soll, oder für klimatische Ereignisse wie Hitzewellen oder schmelzende Gletscher.
Wie ist das Forschungsteam auf die Idee gekommen, die Extremwerttheorie in diesem Projekt anzuwenden? "In unserem Modell behandeln wir hohe Grippefallzahlen als seltene Ereignisse mit starken Auswirkungen. Das ist genau der Fokus der Extremwerttheorie. Modelle, die mit Durchschnittswerten arbeiten, basieren auf den zentralen Werten zur Verteilung und eignen sich nicht zur Quantifizierung von Risiken", erklärt Valérie Chavez.
MEDICA.de; Quelle: Schweizerischer Nationalfonds SNF