Die Netzhaut ist darüber hinaus anfällig für schädigende Nebenwirkungen von Medikamenten, die zur Behandlung anderer Krankheiten wie etwa Krebs, verabreicht werden. Derzeit ziehen Wissenschaftler in der Regel Tiermodelle heran, um Augenkrankheiten und Nebenwirkungen von Medikamenten zu untersuchen.
In den letzten Jahren wurde große Hoffnung in Forschung an Retina-Organoiden – winzigen, aus menschlichen Stammzellen gewachsene, retinaähnliche Strukturen – gesteckt. Allerdings können beide Modelle die Physiologie der menschlichen Netzhaut nicht oder nur ansatzweise widerspiegeln, sodass sich die Ergebnisse dieser präklinischen Studien nicht ohne Weiteres auf den Menschen übertragen lassen. Eine der Besonderheiten von Retina-Gewebe ist, dass es viele unterschiedliche Zelltypen beinhaltet, die in einem komplexen Zusammenspiel miteinander wechselwirken; zudem ist es mit kleinen Blutgefäßen durchzogen. "Es ist äußerst schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, die komplexe Gewebestruktur der menschlichen Netzhaut ausschließlich mit technischen Ansätzen nachzuempfinden", erklärt Dr.-Ing. Christopher Probst, Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB in Stuttgart und Co-Erstautor der aktuellen Veröffentlichung.
Um diese Herausforderungen zu bewältigen, kombinierten die Wissenschaftler Organ-on-a-Chip- und Organoid-Technologien: Zunächst brachten sie menschliche pluripotente Stammzellen dazu, sich zu den verschiedenen Arten von Netzhautzellen zu entwickeln, etwa den Stäbchen und Zapfen als Photorezeptoren und den Bipolar- und Horizontalzellen als informationsverarbeitende Zellen. Basierend auf Erkenntnissen der entwicklungsbiologischen Forschung konnten die Zellen zudem angeregt werden, sich in einer physiologischen Struktur – in der Form von Retina-Organoiden – selbst anzuordnen. Unter Einsatz technischer Hilfsmittel ließen sich dann die noch fehlenden Zelltypen sowie wichtige blutgefäßähnliche Strukturen ergänzen, über die die Zellen mit Nährstoffen und Medikamenten versorgt werden.
"Durch Kombination biologischer und technischer Prozesse ist es uns gelungen, eine komplexe mehrschichtige Struktur zu schaffen, die alle in Retina-Organoiden vorhandenen Zelltypen und -schichten umfasst und erstmals auch die physiologische Interaktion der Photorezeptoren mit dem umliegenden retinalen Pigmentepithel ermöglicht", sagt Co-Erstautor Dr. Kevin Achberger, Postdoc am Lehrstuhl für Neuroanatomie und Entwicklungsbiologie der Eberhard Karls Universität Tübingen. "Mit unserer Retina-on-a-Chip können wir erstmals ein dreidimensionales Netzhautmodell vorweisen, das einen Großteil der strukturellen Merkmale und Funktionalität der menschlichen Netzhaut nachbildet."
So behandelte das Team ihr Retina-on-a-Chip-System mit dem Malariamedikament Chloroquin und dem Antibiotikum Gentamicin, die beide für die menschliche Netzhaut bekannte Nebenwirkungen aufweisen. Die Untersuchungen zeigen, dass die Medikamente diese Nebenwirkungen auch bei den Netzhautzellen im Retina-on-a-Chip-Modell auslösen. Dies unterstreicht das Potenzial, welches die Retina-on-a-Chip als aussagekräftiges Werkzeug für die Untersuchung schädigender Nebenwirkungen hat.
"Ein Vorteil dieses winzigen Modells ist, dass es als Teil eines automatisierten Systems verwendet werden könnte, um Hunderte von Medikamenten sehr schnell auf schädigende Wirkungen auf die Netzhaut zu testen", sagt Achberger. "Außerdem ermöglicht es Wissenschaftlern, Stammzellen eines bestimmten Patienten zu entnehmen und sowohl die Krankheit als auch mögliche individuelle Behandlungen zu untersuchen."
MEDICA.de; Quelle: Fraunhofer IGB