Doch im Alter von etwa elf Jahren zeigt sich: Niklas‘ Aortenklappe hat sich wieder etwas verengt. Zudem ist Klappe undicht: Bei jedem Herzschlag "schießt" ein Teil des sauerstoffreichen Blutes zurück in die Herzkammer, was einen Rückstau des Blutes in die Lungenvenen und damit einen bedrohlichen Lungenhochdruck bewirkt. Und schließlich wird auch eine "linksventrikuläre non-compaction Kardiomyopathie (LVNC)" diagnostiziert: Diese seltene, schwammartige Veränderung des Herzmuskels in der linken Herzkammer verringert die Pump-Leistung des Herzens erheblich.
Niklas‘ Zustand verschlechtert sich stetig. Eine herzchirurgische Korrektur der erkrankten Aortenklappe kommt für die Ärzt*innen der behandelnden Fachklinik nicht in Frage, das OP-Risiko ist wegen des geschädigten Herzmuskels zu hoch. Die einzige Chance für Niklas scheint die Herztransplantation zu sein. Niklas‘ Mutter Nadine sucht eine Zweitmeinung und stellt ihren Sohn im August 2018 zum ersten Mal im Deutschen Herzzentrum Berlin (DHZB) vor.
Auch dort sehen die Ärzte in Niklas‘ undichter Aortenklappe das drängendste Problem. Ihre Annahme: Wenn sie den Herz-Lungen-Kreislauf durch die Beseitigung dieser Engstelle entlasten könnten, könnte die Behandlung der Herzmuskelschwäche – notfalls durch Transplantation – noch aufgeschoben werden. Zwar erscheint auch den Berliner Spezialisten eine OP am offenen Herzen als zu riskant. Doch sie sehen eine weitere Möglichkeit für Niklas: Eine TAVI. Dieses Kürzel steht für englisch "Transcatheter Aortic Valve Implantation", also den Ersatz einer erkrankten Aortenklappe, ohne dass dabei eine Operation am offenen Herzen nötig wird.
Die Segel der Ersatzklappe aus Tiergewebe sind dabei an einem Metallgerüst befestigt, das zusammengefaltet durch einen Katheter bis zum Herzen vorgeschoben wird. Unter Röntgenkontrolle wird die Ersatzklappe genau an Stelle der erkrankten Klappe aus dem Katheter freigesetzt und aufgespannt. Der Brustkorb muss nicht eröffnet und das Herz nicht stillgelegt werden. In den meisten Fällen ist auch keine Narkose nötig. In der Regel dauert der Eingriff weniger als eine Stunde.
Insbesondere wegen fehlender wissenschaftlich gesicherter Langzeit-Erkenntnisse werden TAVI-Prozeduren aber nur empfohlen, wenn ein erhöhtes Risiko für die etablierte OP zum Aortenklappenersatz besteht und sich die Patienten im höheren Alter (in der Regel 75 Jahre oder älter) befinden. Ohnehin ist die Verengung und Verkalkung der Aortenklappe eine Alterserkrankung. Bei jungen Menschen wird ein Ersatz meist – wie in Niklas‘ Fall – nur bei angeborenen Herzfehlern notwendig. Aber auch dann ist das TAVI-Verfahren nicht zugelassen und eigentlich auch nicht sinnvoll: Denn um die TAVI-Klappe sicher verankern zu können, sollte die erkrankte Klappe altersbedingte Verkalkungen aufweisen.
Noch nie wurde nach Wissen der Berliner Ärzten eine TAVI bei einem Patienten mit Niklas‘ komplexen Krankheitsbild vorgenommen. Dennoch sehen die Ärzte in diesem speziellen Fall Erfolgsaussichten und entscheiden sich gemeinsam mit Niklas und seiner Familie für den Versuch.
Am 29.11.2018 beginnt das Team unter Leitung von Oberarzt PD Dr. med. Axel Unbehaun mit dem Eingriff. Er gelingt problemlos. Die neue Klappe sitzt exakt, fest und schließt vollständig. Sowohl der "Rückstoß" des Blutes in die linke Herzkammer als auch die Engstelle als Ursache für den Lungenhochdruck sind damit beseitigt. Bereits vier Tage später kann Niklas aus dem DHZB entlassen werden. Er erholt sich schnell und umfassend, nimmt bereits im Sommer 2019 wieder am Schulsport teil.
Eine Listung zur Herz- oder gar zur Herz-Lungen-Transplantation ist nicht mehr angezeigt. Denn auch die Schwäche des Herzmuskels im Bereich der linken Herzkammer hat sich deutlich gebessert – obwohl die TAVI daran unmittelbar nichts geändert hat. Wie die Berliner Ärzte jetzt in "European Heart Journal – Case Reports" schreiben, legt das die Vermutung nahe, dass der ständige Rückstrahl des Blutes aus der undichten Aortenklappe gegen die Wand der Herzkammer die eigentliche Ursache für die schwammartige Umbildung des Herzmuskels sein könnte. "Das hieße im günstigsten Fall, dass sich der Herzmuskel dauerhaft erholen oder zumindest lebenslang so gut funktionieren könnte, dass Niklas nie für eine Transplantation gelistet werden muss", erläutert Herzchirurg Dr. Axel Unbehaun. "Bislang ist das nur eine Theorie, der wir als Wissenschaftler aber weiter nachgehen werden. Als Ärzte beobachten wir Niklas‘ weitere Entwicklung sorgfältig – und freuen uns mit ihm und seiner Familie sehr darüber, dass es ihm so gut geht."
MEDICA.de; Quelle: Deutsches Herzzentrum Berlin (DHZB)