"Ein großer Vorteil der virtuellen Patienten ist, dass sie einen geschützten Rahmen bieten, in dem auch Fehler erlaubt sind und niemand gefährdet werden kann", erklärt die Dr. Inga Hege. Die Medizindidaktikerin und Informatikerin leitet das Projekt iCoViP (International Collection of Virtual Patients - Digitized Education in Europe beyond the pandemic). Die Ausführung von Lernsoftware sei sehr unterschiedlich und reiche von interaktiven Szenarien über virtuelle Welten mit Avataren bis hin zu Simulationen mit speziellen Simulationsgeräten – allen gemeinsam sei das realistische Setting, in dem die Studierenden eine aktive Rolle übernähmen.
"In unserem Projekt konzentrieren wir uns darauf, interaktive Szenarien zu entwerfen. Wir entwickeln Fallbeschreibungen fiktiver Patienten, die durch Untersuchungsbefunde wie Röntgenbilder und ähnliches sehr realistisch gestaltet sind. Die Studierenden müssen sich dann zwischen verschiedenen Diagnose- und Behandlungsformen entscheiden", führt Hege weiter aus.
Anhand dieser interaktiven Szenarien, die online zur Verfügung stehen, können die Studierenden selbstständig das sogenannte clinical reasoning, also die klinische Entscheidungsfindung, üben. Klinische Entscheidungskompetenz nennt man das komplexe Set von Fähigkeiten und Fertigkeiten, das es braucht, um im klinischen Alltag eine Diagnose zu erstellen und einen Therapieplan für und mit Patienten zu entwickeln. Bei erfahrenen Ärzten laufen diese Entscheidungsprozesse teils automatisch ab, Studierende jedoch profitieren davon, sie systematisch und bewusst zu durchlaufen. Die Lernsoftware CASUS, mit der sie üben, ermöglicht auch ein Visualisieren der Diagnoseschritte.
Die verwendeten Fallbeispiele sind dabei so detailliert und realistisch als wären es echte Patienten: Der 62-jährige Alan Britten, ehemaliger Raucher, kommt in eine Klinik, um einen blutigen Husten abklären zu lassen. Dort wird eine ausführliche Anamnese erhoben, eine körperliche Untersuchung wird vorgenommen, Laborwerte werden eingeholt und die Lunge geröntgt. Alle diese Informationen erhalten die Medizinstudierenden in der interaktiven Lernsoftware, einschließlich eines Fotos von Herrn Britten im Krankenbett. Nun gilt es, auf der Grundlage eines ersten Befundes weitere Untersuchungen vorzunehmen und eine Diagnose zu stellen – in diesem Fall lautet die richtige Diagnose, zu der die Übenden über mehrere Schritte gelangen müssen: ein inoperables Bronchial-Karzinom mit Metastasen in Lunge und Skelett. Die einzige Therapie, welche die Studierenden vorschlagen können: eine palliative Chemotherapie.
"Der Patient Britten ist virtuell, aber der Fall und das zur Verfügung gestellte Material sind sehr realistisch, wir verwenden beispielsweise echte, anonymisierte Röntgenaufnahmen. Die Studierenden haben mit unserer Software die Möglichkeit, auch sehr schwierige und belastende Situationen wie die geschilderte in einem geschützten Rahmen zu erleben und sich damit auf ihren späteren beruflichen Alltag vorzubereiten", erläutert Hege. Die Symptome der virtuellen Patienten führen dabei zu Diagnosen, die den späteren Ärzten in Kliniken und der Allgemeinmedizin häufiger begegnen werden.
MEDICA.de; Quelle: Universität Augsburg