Dass die Rechnung so nicht aufgeht, weiß die moderne Medizin seit längerem und hat den Begriff der personalisierten Medizin geprägt. Je nach Alter, Lebensstil oder genetischem Interieur reagiert der Mensch ganz unterschiedlich auf bestimmte Therapien. Und da es sich beim Menschen um ein lebendes System handelt, das seine Gewohnheiten ändert, in die Ferien fährt oder plötzlich einen Schnupfen kriegt, müssen medizinische Behandlungen enorm flexibel sein.
Hier kommt die Idee eines virtuellen Doppelgängers ins Spiel, der in Echtzeit mit den physiologischen Daten des realen Menschen gefüttert wird. Dieser medizinische Avatar soll dereinst die Medizin revolutionieren. Empa-Forschende entwickeln aber bereits jetzt einen digitalen Zwilling der Haut, der eine optimale Behandlung von Schmerzpatienten und Diabetikern ermöglichen soll. "Mit einem In-silico-Doppelgänger können wir präziser auf den individuellen Patienten eingehen", sagt Thijs Defraeye von der Empa-Abteilung "Biomimetic Membranes and Textiles" in St. Gallen.
Gefördert wird das kürzlich gestartete Vorhaben von der Novartis-Forschungsstiftung und dem Competence Centre for Materials Science and Technology CCMX in Lausanne. Ziel ist es, Medikamente wie Schmerzmittel und Insulin über intelligente Fasern und Membranen über die Haut in den Körper zu bringen, während Sensoren gleichzeitig die Vitalparameter des Patienten messen. Anhand der Daten trifft der digitale Zwilling Vorhersagen zur individuellen Dosierung und kontrolliert den Therapieerfolg. Nach dem gleichen Prinzip könnte der Doppelgänger in einem nächsten Schritt für die Kontrolle des Heilungsverlaufs von anspruchsvollen Wunden eingesetzt werden. Empa-Forscher haben hierzu bereits einen smarten Verband mit integriertem Sensor entwickelt.
Defraeye und sein Team streben an, für die Entwicklung der digitalen Zwillinge gleich zwei innovative Forschungsfelder verschmelzen zu lassen: die nicht-invasive Medikamentengabe über die Haut mit transdermalen Medikamentenpflastern und die Steuerung und Vorhersage des Therapieverlaufs mittels Echtzeit-Modellierung. Dies ist insofern besonders elegant, da die Haut als unser größtes Organ eine geeignete und große Fläche bietet, um Substanzen bis zu einer gewissen Molekülgröße schmerzfrei in den Körper zu schleusen. Die Dosierung ist bei herkömmlichen therapeutischen Pflastern jedoch kaum steuerbar, da beispielsweise Anteile des Wirkstoffs selbst dann noch aus den Hautschichten in den Körper gelangen, wenn das Pflaster längst entfernt ist. Aktuelle Systeme, die eine Rückmeldung, etwa durch Messungen des Medikaments im Blut, einsetzen, können lediglich im Nachhinein beurteilen, ob möglicherweise zu hoch oder zu tief dosiert wurde. Vorhersagen über den Medikamentenbedarf kann das konventionelle Pflaster jedoch keine liefern.
Für den Avatar der transdermalen Therapie werden die Empa-Forscher ein komplexes multiphysikalisches Hautmodell programmieren, das mit den Daten der Hautsensoren gefüttert wird. Als Helfer für die Entwicklung der Sensoren kommen biophysikalische Zwillinge des Menschen, sogenannte Manikins, zum Einsatz. Basierend auf den Informationen der sensorbestückten Puppen können physiologische Kennwerte und Reaktionen eines realen Menschen abgeschätzt werden, etwa die Veränderung der Hauttemperatur oder der Schwitzrate.
Die Manikins und ein verknüpftes Computermodell sind an der Empa bereits heute ein etabliertes System zur Simulation menschlicher physiologischer Reaktionen. Das System wird nun zum Aufbau der deutlich komplexeren digitalen menschlichen Doppelgänger genutzt, die durch eine Vielzahl von Variablen bestimmt werden. "Denn der virtuelle Zwilling muss nicht nur auf Veränderungen reagieren, sondern auch die Dosierung von Medikamenten zuverlässig, sicher und individuell vorhersagen können", sagt Defraeye.
MEDICA.de; Quelle: Empa - Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt