Forscher und Entwickler werden vor dem Training ihres Algorithmus' immer wieder mit dem Problem konfrontiert, genügend aussagekräftige Daten finden oder generieren zu müssen. Dazu gehören nicht nur Vergleichsdaten von gesunden Personen, sondern auch genügend Daten, die krankhafte Veränderungen zeigen. Befundete Bilddaten lassen sich relativ leicht aus den Informationssystemen von Kliniken exportieren. Das könnte ein Grund sein, weshalb Algorithmen bis jetzt vor allem in der Radiologie, Pathologie und Dermatologie erforscht werden. Solche Daten sind dort in großer Zahl verfügbar und die Bilderkennung durch Algorithmen wird schon lange – außerhalb der Medizin – erforscht und in verschiedenen Szenarien auch schon angewendet. Es bestehen hier also schon gute Voraussetzungen. Schwieriger wird es, wenn der Algorithmus auf Daten aus verschiedenen Quellen zugreifen soll. Für Wenzel ist das noch Zukunftsmusik: "Es wird noch eine gewisse Zeit dauern, bis all diese Informationen zu einem bestimmten Patienten und Zeitpunkt automatisch aus den Informationssystemen gelesen und so aufgearbeitet werden können, dass Computer daraus lernen können." Auf diesem Wege könnten Algorithmen dann zum Beispiel die weitere Entwicklung des Patienten vorhersagen, so Wenzel weiter.
Ein Projekt, das sich bereits mit der Verbindung verschiedenster Datensätze beschäftigt, ist iPrognosis. Dr. Lisa Klingelhöfer von der TU Dresden erklärt im Interview mit MEDICA.de den Kernpunkt dieses europäischen Horizon 2020-Projekts, eine Smartphone-App: "Sie soll motorische und nicht-motorische Symptome der parkinsonschen Krankheit erkennen und messen. So hoffen wir, Personen zu erkennen, die frühe Symptome der parkinsonschen Krankheit zeigen, und hierdurch frühzeitiger den Kontakt mit einem Arzt herzustellen." Die App sammelt eine Reihe von Daten über den Nutzer und schickt sie verschlüsselt und anonymisiert an das Studienzentrum in Dresden. Für den auswertenden Algorithmus ergibt sich daraus die Schwierigkeit, Merkmale und Muster in verschiedenartigen Daten zu erkennen und Veränderungen zu identifizieren, die auf ein frühes Stadium der parkinsonschen Krankheit hinweisen.
Diese Veränderungen können beispielsweise in der Stimme und Sprechweise auftreten oder in der Art, wie das Smartphone bedient wird. Auch weitere Wearables, eine Smartwatch, die das Essverhalten aufzeichnet, und ein Smartbelt, mit dem die Darmfunktion beobachtet werden soll, sammeln Daten über mögliche Veränderungen, die mit der Zeit auftreten. Sie sind häufig sehr subtil und werden in klinischen Beobachtungen, die zeitlich beschränkt sind, nicht immer wahrgenommen. Auch hier gilt also: Der Algorithmus nimmt anders wahr, aber genauer und mehr als der menschliche Arzt.
Das offenbart auch die Absicht hinter dem maschinellen Lernen in der Medizin: Es hat niemand vor, einen Arzt durch künstliche Intelligenz (KI) zu ersetzen. Aber KI hat die Möglichkeit, Ärzte zu entlasten und Patienten in bestimmten Fragen genauer und schneller zu beurteilen als der Mensch. Doch auch Ärzte haben zuletzt einen wichtigen Vorteil: Sie sammeln jahrelang Erfahrungen in ihrem Fachgebiet, die nicht in den Datenberg übergehen und sich auch nicht mit Merkmalen und Mustern beschreiben lassen. Sie sind außerdem dazu fähig, kreativ und selbstständig Schlüsse zu ziehen, die auf diesen Erfahrungen beruhen. Die letztendliche Diagnose wird also immer den Arzt als Kontrollinstanz benötigen – auch wenn ein Algorithmus mögliche Diagnosen empfiehlt.