Prof. Thomas Wolbers erforscht mit Hilfe von Virtual Reality (VR) wie sich Menschen räumlich orientieren und inwiefern Orientierungsstörungen auf eine Demenz hinweisen können. "VR eignet sich allerdings nicht nur für die Demenzforschung, sondern auch für die Therapie psychischer Störungen, insbesondere bei Symptomen, die in sozialen Kontexten auftreten“, so der Neurowissenschaftler. Auf der Grundlage des Know-hows seiner Forschungsgruppe, die am DZNE-Standort Magdeburg beheimatet ist, entstand daher 2020 die neomento GmbH. Das Unternehmen mit Sitz in Berlin entwickelt – für die Therapie sozialer Phobien –computergenerierte, realitätsnahe Szenarien: Es handelt sich beispielsweise um Vortragssituationen oder Begegnungen auf der Straße, bei denen nach dem Weg gefragt wird.
Das VR-System von neomento ist als Medizinprodukt zugelassen und wird in Kooperation mit dem DZNE weiterentwickelt und vermarktet. "Wir sehen uns als Dienstleister für psychotherapeutische Praxen und Kliniken“, sagt Wolbers. Als Mitgründer von neomento und "Chief Science Officer“ ist er für die Forschung und Produktentwicklung des Unternehmens maßgeblich verantwortlich.
Personen mit sozialer Phobie werden in Situationen, in denen sie anderen Menschen begegnen, oft von Ängsten oder Selbstzweifeln geplagt: So kann beispielsweise in der Öffentlichkeit zu reden, Fremde anzusprechen oder selbst das Fahren in der U-Bahn erheblichen Stress verursachen, negative Gefühle auslösen und sie daran hindern, alltägliche Situationen zu bewältigen. "Die Betroffenen versuchen, solchen Geschehnissen aus dem Weg zu gehen. Diese Vermeidungsstrategie kann sie beruflich und privat massiv beeinträchtigen und sich letztlich auf ihren gesamten Alltag negativ auswirken“, sagt Wolbers.
In der virtuellen Umgebung, die neomento bereitstellt, können Patientinnen und Patienten – unterstützt von einer therapeutischen Fachkraft – lernen, mit solchen Ereignissen besser umzugehen. "Mit unserem System stellen wir Behandelnden und Patientinnen und Patienten ein Instrument zur Verfügung, das sie beim Erreichen ihrer Therapieziele effektiv unterstützt. Wirksamkeit und Nutzen der VR-Therapie sind wissenschaftlich erwiesen. In den Leitlinien zur Behandlung von Angststörungen wird die VR-Therapie explizit empfohlen. Noch ist diese Therapieform aber wenig verbreitet, da die benötigte Technologie erst seit wenigen Jahren marktfähig ist“, so Wolbers.
neomento hat ein Spektrum von Szenarien entwickelt, die Situationen in Gebäuden, im öffentlichen Nahverkehr oder auch im Freien nachbilden. In diesen virtuellen Umgebungen können Betroffene gezielt Situationen ausgesetzt werden, die sie als sehr unangenehm empfinden. "Die Patientinnen und Patienten erleben das virtuelle Geschehen als äußert real. Durch die Konfrontation lernen sie, ihre Ängste, Gedanken und Verhalten besser an die jeweiligen Situationen anzupassen und gewinnen so wieder neues Selbstvertrauen“, sagt Wolbers. Eine solche Therapie müsste sonst etwa in Rollenspielen nachgestellt werden, was Personal und erheblichen organisatorischen Aufwand erfordert. Daher müssen Menschen mit einer sozialen Phobie oft lange auf einen Therapieplatz warten. "Mit Virtual Reality kann man viele Situationen vergleichsweise einfach simulieren und flexibel an die jeweiligen Bedürfnisse anpassen. Damit kann man die Therapie bedarfsgerecht gestalten, zugleich lassen sich Aufwand und Kosten reduzieren“, so Wolbers.
Bei dem VR-System von neomento steuert eine therapeutische Fachperson die virtuellen Geschehnisse am Computer. Das Unternehmen entwickelt außerdem Möglichkeiten, um Stresssignale auswerten – beispielsweise auf Grundlage der Pulsfrequenz oder Hautleitfähigkeit. "Diese Daten werden vom System fortwährend protokolliert. Darüber lässt sich der Stresspegel bestimmen und objektiv beurteilen, ob eine Behandlung anschlägt. In der konventionellen Verhaltenstherapie ist es meist schwierig, solche Parameter zu erfassen“, sagt Wolbers. Zudem sind die Szenarien dynamisch und interaktiv. Es lässt sich zum Beispiel einstellen, dass in einer Seminarsituation ein virtueller Zuhörender sich meldet und Fragen stellt. Die Patientin beziehungsweise der Patient hört diese Fragen über Kopfhörer und muss sich dann mit der Situation auseinandersetzen.
MEDICA.de; Quelle: Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE)