Die Nieren gehören zu den zentralen Organen unseres Körpers. Sie filtrieren Abfallstoffe aus dem Blut, stabilisieren Wasserhaushalt und Blutdruck, beeinflussen den Energiestoffwechsel und stellen lebenswichtige Hormone her. Sind die Nieren funktionell eingeschränkt – wie etwa bei einer akuten Nierenschädigung – kann das schwerwiegende Folgen haben. "Die akute Nierenschädigung ist in der Klinik eine häufige und ernsthafte Komplikation bei schwerkranken Patientinnen und Patienten, etwa die Hälfte der Intensivpatientinnen und -patienten ist betroffen", sagt Dr. Jan Klocke von der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Nephrologie und Internistische Intensivmedizin der Charité. "Die Problematik wird häufig unterschätzt. Eine akute Nierenschädigung ist mit einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert, und Patientinnen und Patienten können bleibende Schäden davontragen bis hin zum kompletten Verlust der Nierenfunktion."
Eine akute Nierenschädigung kann mit unterschiedlichsten Erkrankungen einhergehen. Sie tritt oftmals bei Herz-Kreislauferkrankungen oder schweren Infektionskrankheiten wie etwa COVID-19 auf, aber auch nach chirurgischen Eingriffen oder im Zusammenhang mit medikamentösen Therapien. Konkrete Behandlungsmöglichkeiten gibt es häufig nicht. "Wir versuchen betroffene Patientinnen und Patienten zu stabilisieren, doch bislang ist es meist nicht möglich, die Schädigungsprozesse in der Niere medikamentös umzukehren", sagt Dr. Hinze, der eine der Studien maßgeblich an der Charité und am Max Delbrück Center betreut hat und jetzt an der Medizinischen Hochschule Hannover tätig ist. "Welche Mechanismen in den Nierenzellen ablaufen, darüber war bislang kaum etwas bekannt. Ziel unserer Studien war es, hier etwas Licht ins Dunkel zu bringen, mit dem langfristigen Ziel, in der Klinik künftig besser behandeln zu können."
Auslöser für eine akute Nierenschädigung ist häufig eine unzureichende Blutversorgung der Niere. Dann erhalten die Zellen dort nicht mehr genügend Sauerstoff und Nährstoffe – sie reagieren mit Stress. Die Zellen gehen in eine Art Alarmmodus über und produzieren Signalstoffe, die im umliegenden Gewebe zu Entzündungs- und Umbauprozessen (Fibrose) führen. Aus Untersuchungen in Tiermodellen weiß man, dass Epithelzellen – Zellen, die die feinen Nierenkanälchen auskleiden – an diesen entzündlichen und fibrotischen Prozessen beteiligt sind. Das zeigten Untersuchungen mit Hilfe der sogenannten Einzelzell-Sequenzierung. Mit dieser modernen Methode kann der molekulare Zustand einer einzelnen Zelle präzise erfasst werden. Doch was passiert bei einer akuten Nierenschädigung auf zellulärer Ebene beim Menschen?
Dieser Frage sind die Teams um Dr. Hinze und Dr. Klocke in zwei nun veröffentlichten Studien nachgegangen. Sie gehören zu den ersten Arbeiten überhaupt, die die Prozesse der akuten Nierenschädigung mithilfe der Einzelzell-Sequenzierung in menschlichen Nierenzellen untersuchen. Am BIMSB haben die Forschenden dafür Zellen aus Gewebeproben und Urin von über 40 Patientinnen und Patienten untersucht und die molekularen Muster von mehr als 140.000 Zellen computergestützt analysiert und miteinander verglichen. "Mit der Einzelzell-Sequenzierung können wir quasi in jede Zelle hineinzoomen und sehen, welche Gene zu diesem Zeitpunkt in der Zelle aktiv sind", erklärt Dr. Hinze. "Daran können wir erkennen, ob die jeweilige Nierenzelle gerade normal funktioniert, unter Stress steht oder dabei ist, abzusterben. Mit dieser hochmodernen Technik erhalten wir über die akute Nierenschädigung ein Verständnis in nie dagewesener Detailschärfe."
So konnte das Team auch zeigen, dass verschiedene Zelltypen der Niere ganz unterschiedlich auf die akute Nierenschädigung reagieren. Die stärksten Antworten beobachteten sie in den Epithelzellen der Nierenkanälchen. Das sind die kleinsten Funktionseinheiten der Niere, die aus mehreren Abschnitten bestehen. Aus Tiermodellen wusste man, dass hauptsächlich Epithelzellen eines bestimmten Abschnitts von den Auswirkungen der akuten Nierenschädigung betroffen waren. Die Ergebnisse der vorliegenden Studien an menschlichen Nierenzellen ergaben nun aber, dass Epithelzellen nahezu aller Abschnitte der Nierenkanälchen in die Schädigungsprozesse involviert sind. "Das verdeutlicht noch einmal, wie wichtig es ist, dass wir humane Systeme untersuchen und besser verstehen lernen", sagt Dr. Hinze. "In den verschiedenen Typen von Epithelzellen konnten wir bestimmte molekulare Muster identifizieren, die bei allen Patientinnen und Patienten mit akuter Nierenschädigung vorkamen, jedoch mit individuell unterschiedlicher Häufigkeit. Diese Befunde könnten künftig dabei helfen, Risiken für schwere Krankheitsverläufe besser abschätzen zu können."
Für die klinische Praxis wäre eine schnelle, nichtinvasive und präzise Untersuchungsmethode wünschenswert, die es ermöglicht, eine akute Nierenschädigung früh eindeutig zu diagnostizieren. Um dieser Zukunftsvision ein Stück näherzukommen, hat Dr. Klocke in Urinproben nach Epithelzellen gefahndet. Im Urin gesunder Menschen sind kaum Zellen zu finden. Doch bei einer akuten Nierenschädigung lösen sich Epithelzellen aus dem Gewebe der Nierenkanälchen und werden mit dem Urin ausgeschieden. Da aber Zellen im Urin nicht lange überleben, war zunächst unklar, ob die Zellen noch intakt sind und sich ihr molekularer Status quo mittels Einzelzell-Sequenzierung überhaupt messen lässt. "Wir haben die Urinproben binnen vier bis sechs Stunden verarbeitet, und es hat tatsächlich sehr gut funktioniert", sagt Dr. Klocke. Die Forschenden konnten bestimmen, aus welchem Abschnitt der Nierenkanälchen die Zellen stammten und welche genetischen Programme sie als Antwort auf die Nierenschädigung aktiviert hatten. "Die Informationen, die die Zellen aus den Urinproben lieferten, stimmten mit denen der entsprechenden Zellen aus Gewebeproben gut überein" sagt Dr. Klocke. "Somit verfügen wir mit dem Urin über eine unkomplizierte und nichtinvasive Methode, um an Probenmaterial für weiterführende Untersuchungen zu kommen – um Biomarker auszumachen und so auf lange Sicht vielleicht Nierenbiopsien reduzieren oder ganz ersetzen zu können."
MEDICA.de; Quelle: Charité – Universitätsmedizin Berlin