Im Interview mit MEDICA.de spricht Brockmann über natürliche Experimente und erklärt, wie Wearables und gesammelte Daten Aufschluss über Infektionskrankheiten und ihre Ausbreitung geben können.
Herr Prof. Brockmann, wie würden Sie die digitale Epidemiologie beschreiben?
Prof. Dirk Brockmann: Sie umfasst im Wesentlichen neue Methoden und Daten, die miteinander kombiniert werden. Das sind zum Beispiel Daten, die über Smartwatches, Wearable Devices oder Smartphones gesammelt werden. Diese Daten werden oftmals nicht unter kontrollierten Bedingungen erhoben, sondern fallen in sogenannten natürlichen Experimenten an, also im täglichen Leben der Menschen.
Methodisch steht die digitale Epidemiologie an der Schnittstelle zwischen Informatik und der Gesundheitsforschung oder der Medizin, ähnlich wie die Bioinformatik. Diese ist ursprünglich entstanden, weil die elektronische Datenverarbeitung als Hilfsmittel bei der Auswertung von Gensequenzierungen benötigt wurde. Heute ist sie eine etablierte Wissenschaft.
Was wäre ein Beispiel für Daten aus natürlichen Experimenten?
Brockmann: Mobilitätsdaten etwa. Sehr viele Menschen besitzen heute Smartphones, die Bewegung und Aufenthaltsort erfassen und speichern. Daraus können wir viel lernen und Informationen gewinnen, die epidemiologisch relevant sind.
Ein anderes Beispiel wären Kontaktnetzwerke in Krankenhäusern. Man kann Personal und Patienten mit RFID-Chips ausstatten und damit räumlich und zeitlich sehr genau aufgelöst analysieren, wer mit wem Kontakt hatte. Die Auswertung dieser Netzwerke ist wiederum wichtig, um die Ausbreitung von nosokomialen Infektionen zu verstehen.
Sie haben auch die Entwicklung der Datenspende-App des Robert-Koch-Instituts geleitet. Welche Vorgänge in der realen Welt können Sie anhand dieser Daten analysieren?
Brockmann: Aus einer Studie von Anfang 2020 weiß man, dass Fieber den Ruhepuls erhöht. Der kann über Wearables gemessen werden. Aus statistischen Abweichungen der Daten einer Person aus dem Normalbereich kann man dann schließen, dass diese Person Fieber hat.
Über die Datenspende-App haben uns viele Menschen freiwillig solche Daten zur Verfügung gestellt. Da Fieber auch Teil der Covid-19-Symptomatik ist – man kann natürlich von Fieber nicht zwingend auf eine Corona-Infektion schließen – wäre es ein Indikator für die Ausbreitung von Covid-19 in einer großen Gruppe von Menschen, wenn viele von ihnen Fieber haben.