Das digitale Netzhaut-Screening ist ein Verfahren, welches diabetische Veränderungen innerhalb weniger Minuten erkennen kann. Auf Basis der optischen Kohärenztomographie (OCT) entstehen binnen 1,2 Sekunden 40.000 Scans der Netzhaut des Patienten. Diese sind hochauflösende Netzhautbilder mit zwei Millionen Pixel. Gescannt werden verschiedenste Veränderungen der Netzhaut und ihrer Gefäße. Diese sind vom Stadium des Diabetes abhängig. Hier wird zwischen nichtproliferativer und proliferativer diabetischer Retinopathie unterschieden. Bei ersterer erfassen die Scans die in diesem Stadium vorzufindenden Mikroaneurysmen beziehungsweise sackförmige Erweiterungen und Gefäßverschlüsse der Netzhaut. Zudem zeigen sie eine geschwollene Makula und Flüssigkeitsansammlung im benachbarten Gewebe, die aufgrund durchlässiger Kapillarwände entstanden sind. Bei zweiterer weist die Netzhaut Einblutungen und Ödeme auf. Diese entstehen, wenn neugebildete Gefäße, die sich aufgrund Unterversorgung der Netzhaut gebildet haben, reißen. Weiterhin können die Scans Netzhautlöcher erfassen, die eine Vorstufe der Netzhautablösung darstellen. Die Daten der Scans werden dann mithilfe automatisierter Algorithmen analysiert, indem sie mit Standardwerten gesunder Menschen verglichen werden, wobei Abweichungen auf eine Krankheit hindeuten. Grundlage dieser automatisierten Algorithmen bilden die Krankheitsverläufe anderer Patienten, die über einen gewissen Zeitraum ermittelt worden sind. Auf dieser Basis kann der Algorithmus den Verlauf eines jeden neuen Patienten individuell bestimmen.
Somit ist eine Blutabnahme, wie dies noch bei bewährten gängigen Methoden erforderlich ist, nicht nötig. Zudem erhält der Patient eine genaue Diagnose mit Angabe des Diabetes-Stadiums bereits innerhalb weniger Minuten.
Doch das digitale Netzhaut-Screening weist, neben der Diagnose von Diabetes, weiteres Potenzial auf. Es liefert Einblicke in den gesundheitlichen Gesamtzustand und Informationen zum Lebensstil der Patienten, wie zum Beispiel Rauchverhalten. Auch Gefäß- und Gehirnzustand können mit dem digitalen Netzhaut-Screening erfasst werden.
Außerdem sollen in naher Zukunft auch Erkrankungen innerer Organe, wie der Niere, altersbedingte Probleme und neurologische Erkrankungen am Zustand der Netzhaut abgelesen werden können. So arbeitet zum Beispiel Martin Hülsmann, Kardiologe an der MedUni Wien beziehungsweise in der Deutschen Handelskammer Wien, zusammen mit Netzhautexperten seit einigen Jahren in klinischen Studien daran, wie Algorithmen anhand Gefäßveränderungen der Netzhaut Hinweise auf kardiovaskuläre Erkrankungen geben können. Das digitale Netzhaut-Screening könnte hier einen Beitrag zur Diagnose liefern, noch bevor diese Erkrankung auftritt.