Was wäre der Nutzen am Ende?
Jungwirth: Das Ziel ist am Ende immer eine Risikoprädiktion und, basierend darauf, die Prävention durch eine individualisierte, maßgeschneiderte Therapie. Dafür fehlt zurzeit noch die Evidenz aus wissenschaftlichen Studien. Wir gehen aber zum jetzigen Zeitpunkt davon aus, dass wir es mit einer individualisierten Therapie entweder schaffen, Komplikationen ganz zu vermeiden oder zumindest aufgrund der Prädiktion abzuschätzen, welcher Patient eine bessere Überwachung nach der OP benötigt.
Wir haben uns in Zeiten der SARS-CoV-2-Pandemie intensiv mit der Kapazität von Intensivbetten beschäftigt. Mit KI-basierten Risikomodellen könnten wir uns nicht nur mit der Vorhersage von postoperativen Komplikationen beschäftigen, sondern auch Patienten auf den Stationen betrachten und fragen: Haben sie wirklich ein relevantes Risiko, dass sie auf die Intensivstation müssen? Wenn ja, wie lange müssen sie dort liegen? Krankenhäuser haben in den vergangenen Monaten bewusst Operationen verschoben, die wahrscheinlich einen Intensivaufenthalt nach sich gezogen hätten, um Betten für COVID-Patienten freizuhalten. KI-Methoden gäben den Krankenhäusern und Stationen eine höhere Planungssicherheit.
Planen Sie, in Ulm KI-Methoden zu implementieren?
Jungwirth: Definitiv. Wir bauen aktuell die grundlegende IT-Infrastruktur auf, die wir für die Erhebung strukturierter, elektronischer Daten benötigen. Es handelt sich um ein PDMS, ein Patientendaten-Management-System. Das ist ein elektronisches Narkose- und Intensivprotokoll, das alle Daten automatisiert in einer Form erfasst, wie wir sie für KI-Methoden benötigen.
Während meiner Zeit an der TU München habe ich bereits die KI Forschung initiiert. Heute haben wir mit der TU München eine Kooperation, von der auch das Forschungsteam an der Universitätsklinik Ulm profitiert. Wir haben in München eine große Datenbank von anästhesiologischen, perioperativen Daten aufgebaut. Diese zeigt die Situation von Patienten vor, während und nach der Narkose auf, bis hin zur Intensivstation. Wir entwickeln gerade mit diesen Daten unsere prädiktiven Modelle, also die Risikokalkulatoren für Komplikationen oder einen Intensivaufenthalt. Dann wollen wir in multizentrischen Studien, zusammen mit anderen Kliniken, feststellen, ob unsere Modelle die Behandlungsergebnisse verbessern.
Welche Bedingungen müssen Ihrer Meinung nach erfüllt werden, damit KI-Methoden in der Anästhesie genutzt werden können?
Jungwirth: Das größte Problem ist wirklich die Datenqualität. Daten müssen sauber und für eine Maschine lesbar erfasst sein. Wir wissen aber, dass 70 bis 80 Prozent der medizinischen Daten unstrukturiert sind. Diese Daten fehlen uns für KI-Methoden. Der klassische Freitext ist also fatal.
Wenn wir multizentrische Studien durchführen oder Daten zwischen unterschiedlichen Kliniken, auch weltweit, austauschen wollen, müssen wir eine einheitliche Sprache sprechen. Diese Daten könnten dann schließlich auch in große Datenbanken einfließen. Das ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass wir KI-Methoden auch so einsetzen können, wie wir sie einsetzen wollen.