Wie kann die App-Nutzung konkret bei MS helfen?
Ziemssen: Unsere Vision für digitale Projekte wie Konectom ist, dass wir versuchen wollen, zu jeder Patientin und jedem Patienten einen sogenannten digitalen MS-Zwilling zu erstellen. Ein digitaler Zwilling ist etwas, das man sonst nur aus der Industrie kennt. Wenn zum Beispiel heute ein Auto gebaut wird, dann gibt es einen digitalen Zwilling für das Auto, wo dessen gesamte Metadaten hinterlegt sind. Wir wollen etwas Vergleichbares für MS-Erkrankte machen.
Im digitalen Zwilling gibt es zwei Bereiche: Einerseits Patientendaten, andererseits Prozeduren. Die Prozeduren sind für Patientin und Patient hilfreich, weil zum Beispiel nachlesbar ist, wann welche Therapie oder Kontrolluntersuchung ansteht. Mit diesen Informationen kann auch kontrolliert werden, ob der behandelnde Arzt so vorgeht, wie es sein sollte. Die Daten liefern unterschiedliche Quellen wie zum Beispiel Konectom.
Wie nehmen die Patientinnen und Patienten die App auf?
Ziemssen: Sehr gut. Wir versuchen auch, mithilfe dieses Projektes zu verstehen, wie unterschiedliche Patiententypen offen sind gegenüber solchen Innovationen. Wir sehen interessanterweise bei Personen, die eigentlich schon älter sind und vielleicht nicht so viel mit digitalen Medien umgehen, dass auch sie bereit sind, die App zu nutzen.
Im Rahmen des Konectom-Projekts sind wir aktuell im engen Kontakt mit den zu behandelnden Personen und geben regelmäßiges Feedback, was sehr positiv wahrgenommen wird. De Patientinnen und Patienten machen die Untersuchungen und Funktionstests zu Hause mit der App, das geht an uns und wir geben Rückmeldung, wie es läuft und was sie besser machen sollten beziehungsweise könnten. So entsteht ein Dialog zwischen Arzt und Patient, davon können beide Parteien profitieren. Wir lernen die MS besser kennen, um sie zielgenauer zu therapieren und können der Patientin oder dem Patienten direkt Rückmeldung geben.
Damit die MS-Erkrankten die App langfristig nutzen, glauben wir, dass es nicht ausreichen wird, wenn wir sie einfach nur die Übungen oder Tests durchführen lassen. Wir denken, dass es perspektivisch wichtig ist, wirklich eine bidirektionale Kommunikation mit der zu behandelnden Person zu führen. So merken unsere Patientinnen und Patienten, dass die erhobenen Daten eine wichtige Rolle spielen.
Wie sehen die Zukunftspläne des Projekts aus?
Ziemssen: Wir hoffen natürlich, dass wir mit diesem Projekt eine Vorreiterrolle übernehmen können, weil es uns immer Spaß macht, Innovationen so an den Start zu bringen, dass andere Zentren sie auch nutzen können. Wir müssen aber auch verstehen, welche Tricks und Kniffe hilfreich sind, die MS-Erkrankten an Bord zu kriegen. Unsere Idee ist, dass es nicht nur eine Studie bleibt, die ein Jahr läuft und dann wieder beendet wird. Wir wollen diese Studie gerne dazu nutzen, die App in die klinische Versorgung als Standard einzubinden. Die Informationen, die wir haben, sollen auch dazu führen, dass das Smartphone breiter angewendet wird und als Instrument noch weiter genutzt wird.
Mit der nächsten Ausbaustufe möchten wir neurologische Funktionen über die Sprache messen. Ein Hauptproblem bei MS-Patienten ist die MS-assoziierte Müdigkeit oder Fatigue. Wir glauben, dass wir sie mit Sprachanalyse messen können. Als weitere zu messende Funktion wissen wir, dass Augenbewegungen eine wichtige Rolle spielen und möchten die Smartphone Kamera nutzen, um diese zu messen. Ebenso haben wir bereits eine Sprunganalyse entwickelt, denn Sprünge sind repräsentativer und herausfordernder, als zum Beispiel jemanden lange gehen zu lassen. Dabei soll über die im Smartphone verfügbaren Technologien aufgezeichnet und analysiert werden, wie gut der Sprung ist und welche neurologische Funktion wahrscheinlich beeinträchtigt ist.
Wir versuchen praktisch all das, was an Funktionen durch die MS beeinträchtigt werden kann, messbar zu machen. Und das mit einer Technologie, die kein superteures Messgerät erfordert, sondern von jeder und jedem mit Smartphone verwendet werden kann.