Smarte Pflege: Sicherheit und Entlastung dank AAL

Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt und die Geburtenraten sinken – das ist zumindest in den Industrienationen der Fall. In den kommenden Jahrzehnten werden immer mehr Rentner und Pflegebedürftige immer weniger Erwerbstätigen gegenüberstehen. Diese Tendenz treibt die Pflege schon heute an ihre Grenzen. Es bedarf also dringend neuer Konzepte. Eines davon ist Ambient Assisted Living.

Wörtlich übersetzt bedeutet Ambient Assisted Living (AAL) so viel wie "umgebungsunterstütztes Leben". Mithilfe unterschiedlicher – meist technischer – Systeme, Produkte oder Dienstleistungen soll das alltägliche Leben älterer oder kranker Personen oder Menschen mit Behinderung unterstützt werden. Die Kernziele sind, Pflegebedürftigen mehr Selbstbestimmung und Sicherheit zu gewährleisten und Pflegende zu entlasten. Das betrifft die häusliche ebenso wie die stationäre Pflege.

Im AAL wird in den meisten Fällen zwar auf die Smart Home-Technologie zurückgegriffen, aber während die Steuerung von Licht und Rollladen per Tablet körperlich und geistig fitten Menschen hauptsächlich dem Komfort dient, ermöglicht sie älteren Menschen ein selbstständigeres Leben in den eigenen vier Wänden. AAL ist aber noch um einiges vielfältiger. Die Assistenzsysteme reichen von Baumaßnahmen über intelligente Hilfsmittel bis hin zu komplexen technischen Gesamtsystemen. Idealerweise kommt eine Kombination mehrerer Maßnahmen zum Einsatz. Beispiele für solche Assistenzsysteme sind automatische Herdabschaltung, Sensoren zur Sturzerkennung, automatische Nachtbeleuchtung, Telemonitoring oder Medikationserinnerung. Einige Produkte sind bereits auf dem Markt, andere befinden sich noch in der Forschungs- und Entwicklungsphase.

Erforscht werden sie zum Beispiel im Ambient Assisted Living Lab der Hochschule Kempten, einer mit Assistenzsystemen ausgestatteten Seniorenwohnung. Hier finden sich beispielsweise in der Küche fahrbare Oberschränke, im Bad eine intelligente Toilette zur Messung von Vitalfunktionen und im Schlafzimmer ein Bett mit Aufstehfunktion. "Für die Einrichtung einer einzelnen Seniorenwohnung kommen aber nicht alle diese Systeme tatsächlich infrage. Das hängt vom Krankheitsbild, vom persönlichen Bedürfnis und natürlich auch finanziellen Aspekten ab. So individuell jeder Mensch ist, so individuell muss auch die technische Assistenz sein", erklärt Alexander Karl, Laboringenieur AAL Living Lab, im Interview.

Neben der Ausstattung der Wohnumgebung spielen auch Wearables eine große Rolle im AAL. Sie erinnern den Träger zum Beispiel an die Einnahme von Medikamenten oder messen dessen Herzfrequenz. Oft sind sie auch mit GPS-Sensoren ausgestattet, sodass die Pflegekraft immer weiß, wo sich der Pflegebedürftige befindet. Eine solche Ortungsfunktion ist auch in das moio.care-System integriert. "Das ist ein dünnes flexibles Sensormodul, das von Pflegebedürftigen mithilfe von speziellen Pflastern am Rücken getragen wird. Dank seiner besonderen Form und des weichen Materials wird es vom Träger nicht gesehen und kaum gespürt. Damit sind wir das erste Wearable, das auch von Menschen mit Demenz tatsächlich akzeptiert wird, weil sie gar nicht wissen, dass es da ist", so Jürgen Besser, Geschäftsführer der MOIO GmbH.

Viele Systeme nehmen Gewohnheiten als Auswertungsbasis und schlagen Alarm, wenn das Verhalten von der Norm abweicht. Auch moio.care misst die Bewegungen des Trägers im Schlaf zwecks Dekubitusprävention. Mit dieser permanenten Sammlung von Daten gehen auch immer Fragen des Datenschutzes einher. Jürgen Besser nimmt Skeptikern die Angst: "Es werden nur notwendige Informationen kommuniziert – alles andere geht verloren. Das ist uns nicht nur aus ethischen Gründen wichtig, sondern auch hinsichtlich der Datensparsamkeit und -sicherheit." Das helfe schließlich auch bei der Kundenakzeptanz.

Trotzdem gibt es noch viel Misstrauen gegenüber dem Einsatz neuer Technologien im Wohnumfeld pflegebedürftiger Menschen. Das liegt nicht nur an der Unsicherheit bezüglich des Datenschutzes, sondern vor allem daran, dass Senioren die Auseinandersetzung mit unbekannter Technik scheuen. Aber als wohl größte Hürde gelten die Kosten. Zum einen sind viele Innovationen nicht auf dem Markt verfügbar, weil niemand investieren möchte. Zum anderen sind Anschaffungen und Umbauten mit hohen Kosten verbunden, die Pflegeheime und Privathaushalte nicht stemmen können. Es fehlt insbesondere an der Förderung durch das Gesundheitssystem. "AAL ist ein mehr oder weniger neues Thema für alle Beteiligten – Politik, Krankenkassen und Pflegepersonal. So stehen viele Pflegende den technischen Assistenzsystemen skeptisch gegenüber. Auch bei den Kassen ist das Thema noch nicht ausreichend verankert", bestätigt Karl. "Hier besteht aus meiner Sicht noch großer Nachholbedarf, denn auch eine Krankenkasse profitiert, wenn Menschen länger in der eigenen Wohnung leben können und keine stationäre Pflege benötigen."

Auch Gesundheitsökonomen sowie eine vom Bundesministerium für Gesundheit beauftragte Studie prognostizieren, dass durch technische Unterstützung die Unterbringung in Pflegeheimen verzögert oder vermieden wird. Langfristig zahlt sich die Investition in technische Assistenzsysteme im Normalfall aus. Das Unternehmen CIBEK rüstet eine kleine Wohnung für 3.500 Euro um. Das entspricht in etwa den Kosten von einem Monat Unterbringung im Pflegeheim. Oft scheitert AAL bereits bei der gesellschaftlichen Akzeptanz von mehr technischer statt menschlicher Unterstützung in unserem Alltag. Die Kontrolle durch Maschinen ist vielen Menschen unheimlich.

"Es wird [außerdem] viel am Bedarf vorbeientwickelt. Oder es werden technische Lösungen für Probleme entwickelt, die bereits gelöst sind oder eigentlich kein Problem darstellen. Es muss kritischer hinterfragt werden, ob die entwickelten Systeme tatsächlich einen Mehrwert für die Praxis generieren", schildert Besser die aktuelle Situation. Ein positives Beispiel für ein erfolgreich in die Pflegepraxis etabliertes System ist das Hausnotrufsystem. AAL kann also funktionieren, wenn sich alle Beteiligten darüber einig sind, dass es notwendig ist. Es bleibt demnach zu hoffen, dass in naher Zukunft noch weitere sinnvolle Assistenzsysteme entwickelt, in den Hilfsmittelkatalog der Krankenkassen aufgenommen werden und Einzug in Pflegeheime und -haushalte finden. AAL kann dem Mangel an Pflegekräften zwar nicht entgegenwirken, aber die Pflege (zu Hause) deutlich erleichtern.