Wie wurden Ihre Studien durchgeführt?
Faisal: Unser Team besteht aus KI-Forschenden, biomedizinischen Ingenieurinnen und Ingenieuren sowie Klinikerinnen und Klinikern. Wir haben eng mit klinischen Forschenden zusammengearbeitet. Einer von ihnen ist Professor Richard Festenstein vom Imperial College London, der sich mit der Friedreich-Ataxie beschäftigt. Für die Duchenne-Muskeldystrophie waren Professor Thomas Voit und Dr. Valeria Ricotti vom Great Ormond Street Hospital in London mitwirkend.
Zu Beginn der Studien wurden alle Teilnehmenden einer klinischen Standardbewertung unterzogen. Im Rahmen dieser Bewertung verwendeten wir tragbare Sensoren, welche die Patientinnen und Patienten allerdings nicht nur während der Untersuchung im Krankenhaus, sondern auch im Alltag trugen. Wir haben ihre Bewegungsdaten zu drei Zeitpunkten erhoben: zu Studienbeginn, nach neun Monaten und nach 18 Monaten. Während dieser Zeit haben wir die Entwicklung ihrer traditionellen Biomarker beobachtet.
Anschließend haben wir auch unsere digitalen Biomarker angewendet, um den Krankheitsverlauf basierend auf den digitalen Verhaltensdaten vorherzusagen. Für die Duchenne-Muskeldystrophie konnten wir bereits aus den am ersten Tag erhobenen Daten den exakten zeitlichen Verlauf zum Fortschreiten der Krankheit für jede einzelne Patientin und jeden einzelnen Patienten individual vorhersagen, weil Alltagsverhalten eine sehr ergiebige Datenquelle sind.
Bei der Friedreich-Ataxie konnten wir dasselbe und sogar noch mehr erreichen. Es handelt sich hier um eine genetische Erkrankung, die die Steuerung eines in den Zellen produzierten Proteins namens Frataxin beeinflusst. Diese Menge ändert sich mit zunehmender Dauer der Krankheit. Wir konnten anhand der Bewegungsdaten vorhersagen, wie das Proteinprofil dieser Patientinnen und Patienten an einem bestimmten Tag aussah, also ob sie mehr oder weniger Protein hatten als an einem anderen Tag. Damit sind wir erstmals in der Lage, die Analyse von Blutproben durch die Analyse von Verhaltensdaten ersetzen.
Der Prozess, Proteine aus DNA herzustellen, wird als Transkriptomik bezeichnet. Wir konnten das tun, was wir Behavioral Transcriptomics (Verhaltens-Transkriptomik) nennen: Verhalten auslesen und ein Genaktivitätsprofil ermitteln.
Inwieweit ergibt sich daraus ein Mehrwert für das Screening bzw. das Monitoring von Erkrankungen?
Faisal: Dies wird die größten unmittelbaren Auswirkungen auf alle haben, die Therapien entwickeln, ob pharmazeutischer oder anderer Art, denn wir können die mit der Entwicklung verbundenen Kosten, Zeit und Risiken reduzieren. Die meisten Medikamente und Therapien scheitern nicht in der Entdeckungsphase, sondern während des Entwicklungsprozesses, wenn sie in klinische Studien überführt werden, und ihre Wirkung nicht so groß ist, wie es im Hinblick auf traditionelle Marker erwartet wird. Mein Kollege Richard Festenstein, der eine solche Behandlung entwickelt, erklärte mir, "die Patientinnen und Patienten können sich jetzt im Bett umdrehen", aber die traditionellen Marker können diese Verbesserung der Situation nicht erfassen. Deshalb brauchen wir ethomische Biomarker und stellen diese dann auch als Service zur Verfügung.
Wir glauben auch, dass unsere Technologie für diagnostische Zwecke wertvoll sein kann, da sie ständig Bewegungsdaten erfasst und Muster erkennen kann, die Menschen nicht bemerken würden. In der Tat behandelt unsere nächste geplante Publikation diagnostische Zwecke.
Letztendlich könnte die ethomische Biomarker-Technologie dabei helfen, einen Ausbruch von Krankheiten rechtzeitig dank Überwachung zu identifizieren. Wir gehen derzeit über bewegungsbezogene Krankheiten hinaus und führen Studien zur psychischen Gesundheit durch. Mit den geeigneten Methoden könnte diese Technologie sogar bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder symptomlosen Hirntumoren angewendet werden.