Das Rett-Syndrom ist eine sehr seltene genetische Erkrankung, die überwiegend Mädchen betrifft. Ein zentrales Leiden von Mädchen und Frauen mit Rett-Syndrom sind neben Herausforderungen in der Kommunikation auch Bewegungsstörungen der Hände. Dies führt zu erheblichen Einschränkungen bei einfachen Alltagstätigkeiten wie z.B. selbständiges Essen und vermindert hierdurch deutlich die soziale Teilhabe. Der Schweregrad solcher Beeinträchtigungen in Bezug auf beabsichtigte Handbewegungen durch z.B. Stereotypien wie wiederholte ‚Händewasch-Bewegungen‘ kann sehr unterschiedlich sein. Personalisierbare und adaptive Übungen können die Entwicklung willentlicher Handbewegungen sowie die Reduktion von Stereotypien unterstützen.
Zweck ist ein Therapieansatz, der Spaß macht und auch zuhause mit geringem Aufwand eingesetzt werden kann, um den gezielten Armeinsatz von Rett-Patientinnen zu verbessern. In diesem Kontext wird das TeMoRett-System aus kostengünstigen Komponenten bestehen und von den Pflegeverantwortlichen wie Angehörige, Therapeutinnen und Therapeuten oder Ärztinnen und Ärzten einfach betrieben werden können. Außerdem soll eine telemedizinische Komponente die Betreuung der Patientinnen und Patienten durch räumlich entfernte Expertise erlauben.
Die Projektidee basiert auf der den Ergebnissen der Spielforschung von Dr. Pamela Diener von dem Georgetown University Medical Center (Washington, D.C., USA): "In vorhergehenden Arbeiten konnten wir die grundlegende Machbarkeit der Spielidee und der telemedizinischen Ansätze für das Armtraining, sowie die damit verbundenen Handlungsreaktionen und Aufgaben-spezifische Aufmerksamkeit bei Rett-Patientinnen nachweisen. TeMoRett ist ein essenzieller nächster Schritt zur Weiterentwicklung und Erforschung dieser Trainingsverfahren.“
Zur Umsetzung dieses Fortschritts ist ein hochkarätiges, interdisziplinäres Konsortium zusammengekommen. Neben dem Georgetown University Medical Center (Washington, D.C., USA) und der Interactive & Cognitive Systems Gruppe des Fraunhofer HHI (Berlin), bringen das Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (Leipzig), die Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Neurologie und Sozialpädiatrisches Zentrum (Berlin) der Charité – Universitätsmedizin Berlin, sowie der Rett Syndrom Deutschland e.V. (Rösrath) wichtige Kompetenzen ins Projekt ein.
Paul Chojecki, Koordinator des TeMoRett Konsortiums und Projektmanager des Fraunhofer HHI formuliert eine deutliche Zukunftsprognose: "TeMoRett passt perfekt zu unserer langjährigen Strategie, perzeptuelle Mensch-Technik-Interaktionstechnologien mit medizinischen Anwendungen zu verknüpfen. Ich freue mich darauf, diesen hochkarätigen Verbund zu leiten und gemeinsam neue Therapieansätze der motorischen Rehabilitation für Rett-Patientinnen und -patienten zu entwickeln.“
Das Fraunhofer HHI übernimmt dabei eine Führungsrolle in der technischen Entwicklung. Die Forschenden der Abteilung "Vision & Imaging Technologies“ fokussieren sich insbesondere auf die präzise, echtzeitfähige 3D-Handerfassung und benutzerfreundliche AR-Interaktionsmodule.
Als wesentlicher Teil des TeMoRett-Projekts sollen technische Methoden für unterhaltsame Übungsprogramme entwickelt werden, bei denen beabsichtigte Hand-bewegungen automatisch erkannt und durch Belohnung positiv verstärkt werden. Die technische Herausforderung findet sich im Umstand, dass sowohl das Spektrum möglicher Bewegungen als auch die Kontrolle von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sind. Darüber hinaus dürfen die verwendeten Eingabetechnologien nicht aufdringlich sein, um die Patientinnen und Patienten möglichst wenig abzulenken.
Dr. Vera Raile, Charité – Universitätsmedizin Berlin, fasst das TeMoRett-Vorhaben prägnant zusammen: “Unser Ziel ist es, für Mädchen mit Rett-Syndrom eine spielerische und motivierende Therapie zu entwickeln, die alltagsbegleitend das motorische Lernen ermöglicht und somit zu einer verbesserten Handfunktion führt.“ In diesem Zuge ergänzt Dr. Michael Gaebler, Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, die "wissenschaftlich fundierte Optimierung des Lernfortschritts, also z.B. durch personalisierte Inhalte und adaptive Schwierigkeitsgrade.“
Ein sich anschließendes Kernelement des Projektes findet sich in den bereits angedeuteten Belohnungssystemen (z.B. Multimedia-Ausgabe), die individuell angepasst werden, um die Probandinnen und Probanden umfassend zu fördern. Der Schwierigkeitsgrad soll dabei, je nach Leistung in den vorangegangenen Sitzungen, adaptiv zunehmen ("Shaping“). Die spielerischen Inhalte, die mittels projektiver Extended Reality (XR-) Methoden vor den Teilnehmenden auf den Tisch dargestellt werden, bilden einen essenziellen Teil der Projektentwicklung und -evaluierung.
Zusätzlich sollen Daten aus der videobasierten Erfassung des Verhaltens (z.B. Kopfbewegungen) und der Psychophysiologie (z.B. Herzfrequenz) in die Anpassung wie Auswertung des Trainings einbezogen werden. Aus dieser Forschungspraxis ergibt sich, dass Probanden, Schwierigkeitsgrad und Belohnungsmechanismen besser aufeinander eingestimmt werden können. Zu guter Letzt erlaubt eine Analyse der Trainingsdaten und die Visualisierung der Ergebnisse eine quantifizierbare Kontrolle der Trainingseffekte für Ärztinnen und Ärzte, Forschende und Therapeutinnen und Therapeuten.
Nicht nur deshalb "ist es besonders wichtig, dass wir bereits innerhalb des Projektes die Bedürfnisse der Patientinnen aber auch die der anderen Nutzerguppen des zukünftigen TeMoRett-Systems berücksichtigen“ sagt Claudia Petzold, Vorsitzende des Rett Syndrom Deutschland e.V. Der Verein ist eine zentrale Anlaufstelle für Rett-Betroffene im deutschsprachigen Raum. Die Vernetzung des Vereins in der inter-nationalen Rett-Community wird das Konsortium dabei unterstützen Kontakte zu potenziellen Nutzergruppen aufzubauen, Evaluationen in den Familien durchzuführen und für die TeMoRett-Ergebnisse zu kommunizieren.
MEDICA.de; Quelle: Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik, Heinrich-Hertz-Institut, HHI