Ein verwandtes Virus, SARS-CoV, führte 2003 zu einem viel kleineren Ausbruch, möglicherweise weil die Infektion auf die unteren Atemwege beschränkt war: Dadurch wurde jenes Virus weniger übertragbar. Im Gegensatz dazu infiziert SARS-CoV-2 zusätzlich die oberen Atemwege einschließlich der Nasenschleimhaut und breitet sich in der Folge durch Virenausstoß – zum Beispiel beim Niesen – schnell aus.
Der Gewebetropismus spiegelt die Fähigkeit eines Virus wider, bestimmte Zelltypen in verschiedenen Organen zu infizieren. Er wird durch das Vorhandensein von Andockstellen, sogenannten Rezeptoren, auf der Oberfläche der Zellen bestimmt. Diese ermöglichen das Andocken und Eindringen in die Zellen. "Ausgangspunkt unserer Studie war die Frage, warum SARS-CoV und SARS-CoV-2, die beide ACE2 als Rezeptor nutzen, unterschiedliche Krankheiten verursachen", erklärt Mikael Simons, Forschungsgruppenleiter am DZNE-Standort München und Professor für molekulare Neurobiologie an der Technischen Universität München, dessen Team an den aktuellen Untersuchungen beteiligt war, zusammen mit Prof. Giuseppe Balistreris Forschungsgruppe an der Universität von Helsinki.
Um zu verstehen, wie sich Unterschiede in den Gewebetropismen erklären lassen, warfen die Forschenden einen Blick auf die viralen "Spike-Proteine", die das Virus für das Eindringen in die Zelle benötigt. "Das SARS-CoV-2-Spike-Protein unterscheidet sich von seinem älteren Verwandten durch die Einfügung einer Furin-Spaltstelle ", sagt Simons. "Ähnliche Spaltstellen finden sich in den Spike-Proteinen vieler anderer hochpathogener menschlicher Viren. Als wir erkannten, dass diese Furin-Spaltstelle im SARS-CoV-2-Spike-Protein vorhanden ist, dachten wir, dass uns dies zur Antwort führen könnte". Wenn Proteine durch Furin gespalten werden, wird eine spezifische Aminosäuresequenz am gespaltenen Ende freigelegt. Solche furingespaltenen Substrate weisen ein charakteristisches Muster auf, von dem bekannt ist, dass es an der Zelloberfläche an Neuropiline bindet.
Experimente mit im Labor kultivierten Zellen in Verbindung sowohl mit künstlichen Viren, die SARS-CoV-2 imitieren, als auch mit natürlich vorkommenden Viren deuten darauf hin, dass Neuropilin-1 in der Lage ist, die Infektion "in Begleitung" von ACE2 zu fördern. Durch die spezifische Blockierung von Neuropilin-1 mit Antikörpern konnte die Infektion unterdrückt werden. "Wenn man sich ACE2 als Eintrittstür in die Zelle vorstellt, dann könnte Neuropilin-1 ein Faktor sein, der das Virus zur Tür lenkt. ACE2 wird in den meisten Zellen in sehr geringen Mengen exprimiert. Daher ist es für das Virus nicht leicht, Türen zum Eindringen zu finden. Andere Faktoren wie Neuropilin-1 scheinen notwendig zu sein, um dem Virus zu helfen", erklärt Simons.
MEDICA.de; Quelle: Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)