Welche Bedeutung könnte diese Methodik für die personalisierte Medizin bei Krebs haben?
Thierry Nordmann: Die räumliche Auflösung des Proteoms spielt insbesondere bei Krebserkrankungen eine zentrale Rolle. Während jede Zelle in einem Tumor Teil der Erkrankung ist, treiben bestimmte Subpopulationen die Bösartigkeit von Tumoren, wie das Potenzial zur Ausbreitung des Tumors durch Metastasierung oder die Invasion in umliegende Gewebe, an. Indem wir im Tumorgewebe einzelne Zelltypen voneinander unterscheiden, können wir die Rolle verschiedener Signalwege und sogar einzelner Proteine innerhalb der Gewebearchitektur des Tumors bestimmen. Auf diese Weise können wir beispielsweise erkranktes Gewebe nahe von Blutgefäßen mit den Randbereichen des Tumors vergleichen und so Prozesse bestimmen, die zur Metastasierung in entfernte Gewebe beitragen. Zudem erlaubt uns die Präzision unseres Lasersystems, Tumorzellen besser aus dem Hintergrund des Zielorgans zu extrahieren und diese Zellen durch Proteomanalysen an Ihren Ursprungsort, den Primärtumor, zurückzuverfolgen.
Lisa Schweizer: DVP öffnet uns nun die Tür für personalisierte Medizin, da wir maligne Zellen untersuchen und unmittelbar mit den benachbarten, gesunden Zellen vergleichen können. Darüber hinaus können wir den Wachstumsverlauf eines Tumors über seine Gewebestruktur verfolgen und die Zahl der verschiedenen Zellpopulation, sowie deren Eigenschaften visualisieren. Dadurch verbessern wir nicht nur unser Wissen über die Heterogenität eines Tumors, also dessen Aufbau aus unterschiedlichen Zelltypen und deren Eigenschaften, sondern können auch individuelle Veränderungen der Erkrankung erkennen. Obwohl Krebserkrankungen durch ihre Lage und ihr genetisches Profil klassifiziert werden können, ist jeder Tumor durch Faktoren, wie beispielsweise Umgebungseinflüsse, sehr individuell – so wie es eben auch jeder Mensch ist. Dementsprechend könnte mit Hilfe unserer Technologie viel individueller auf den Tumor eines einzelnen Patienten eingegangen und dieser wiederum so zielführender behandelt werden.
Wäre eine Deep Visual Proteomics-Anwendung auch für andere Erkrankungen als Krebs denkbar?
Thierry Nordmann: Auf jeden Fall! Unsere Technologie erlaubt es jede Erkrankung, in der die räumliche Auflösung im Gewebe eine Rolle spielt, zu charakterisieren. Die Automatisierung und Reproduzierbarkeit aller Prozesse unserer Technologie ermöglichen die Anwendung auf ein weites Feld unbeantworteter Fragen – auch in der Medizin.
Lisa Schweizer: Und wir beschränken uns hier nicht nur auf Krankheiten, sondern können prinzipiell jedes Gewebe und dessen zugrundeliegende Biologie untersuchen. Insbesondere im Bereich der so genannten ‘Omics’-Technologien, wird die Gewebearchitektur auf DNA- oder RNA-Ebene zahlreich hinsichtlich der zellulären Bestandteile untersucht. DVP erlaubt es, diese Analysen auch auf Proteine auszuweiten, die im Gegensatz zu den genetischen Informationen, die ausführenden Kräfte einer Zelle sind.
Zusammengefasst hoffen wir mit unserer Technologie die Grenzen des Möglichen in der Proteomik zu erweitern und insbesondere komplexe (Krebs-) Erkrankungen besser zu verstehen.