Interview mit Prof. Stefan Müller, Medizinische Sensor- und Gerätetechnik, Fachbereich Angewandte Naturwissenschaften, Technische Hochschule Lübeck
08.03.2021
Im Notfall muss es schnell gehen. In solchen Situationen die richtige Entscheidung zu treffen, ist für den Rettungsdienst oft eine Herausforderung – besonders dann, wenn die Symptome unklar sind. Das ist der Fall, wenn der Patient Atem- oder Herz-Kreislauf-Probleme oder eine Vergiftung hat. Für eine schnelle und vor allem genaue Diagnose ist eine Blutanalyse notwendig. Hier kommt mobOx ins Spiel.
Prof. Stefan Müller
Im Interview mit MEDICA.de spricht Prof. Stefan Müller über die Vorteile einer Blutanalyse direkt am Einsatzort sowie darüber, welche Rolle Künstliche Intelligenz (KI) dabei spielt und wie die Notfallmedizin der Zukunft aussehen könnte.
Herr Prof. Müller, wie kamen Sie auf die Idee, mobOx zu entwickeln?
Prof. Stefan Müller: 2015 haben wir im Rahmen eines vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderten Projektes mit der Entwicklung eines optischen Sensorkonzeptes zur Bestimmung verschiedener Hämoglobinformen (CO-Oximetrie) begonnen. Der Sensor sollte zunächst in einem stationären Blutgasanalysegerät eingesetzt werden. Eine Randbedingung war dabei, dass die Blutprobe vor der Analyse nicht vorbehandelt wird. In diesem Zusammenhang entstand ein komplexer Laboraufbau, mit dem wir das optische Verhalten zahlreicher Blutproben untersucht haben. Dabei wurden verschiedene klinisch relevante Parameter experimentell eingestellt und so Krankheitsbilder nachgebildet. Mithilfe der auf diese Weise entstandenen Datenbank haben wir eine Vielzahl verschiedener Algorithmen untersucht. Hierbei hat sich ein KI-basierter Ansatz als besonders vielversprechend erwiesen, den wir weiterentwickelt haben. Bei den abschließenden Tests stellte sich heraus, dass dieser neben einer hohen Genauigkeit auch die Eigenschaft mitbringt, besonders robust gegenüber schwankenden Umgebungsbedingungen wie Temperatur oder Erschütterungen zu sein. Hieraus entstand die Idee, dass unser Ansatz für mobile Einsatzszenarien besonders geeignet sein könnte.
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Eine Blutanalyse direkt am Einsatzort spart im Notfall wertvolle Zeit.
Wie genau unterstützt KI die Analyse?
Müller: Unser Verfahren basiert darauf, dass Veränderungen im Farbspektrum der Blutprobe detektiert werden. Hierbei helfen KI-basierte Algorithmen, Muster in den Daten zu erkennen, und diese verschiedenen Ursachen zuzuordnen. Instrumentendrift, wie er beispielsweise durch Temperaturschwankungen und Erschütterungen verursacht wird, stellt hierbei eine wesentliche Fehlerquelle dar und führt zu Ungenauigkeiten in der Bestimmung der Blutparameter. Die von uns entwickelten Algorithmen sind gegen diese Einflüsse besonders unempfindlich. Des Weiteren ermöglichen sie es auch, komplexe und hochgradig nicht-lineare Zusammenhänge in den Daten präzise zu modellieren.
Inwiefern kann mobOx die Notfallmedizin verbessern?
Müller: Die schnelle, einfache und zuverlässige Blutanalytik am Einsatzort kann in vielen Fällen helfen, unmittelbar mit einer zielgerichteten Therapie zu beginnen und dadurch potenzielle Spätfolgen für den Patienten zu minimieren. So kann beispielsweise bereits während des Transports des Patienten die Gabe von Medikamenten angepasst oder die Entscheidung getroffen werden, eine Spezialklinik anzusteuern. Zudem stellt mobOx eine zusätzliche Absicherung des Rettungsdienstpersonals bei Entscheidungen dar.
Das momentan in der Entwicklung befindliche Gerät ist aufgrund des optischen, KI-basierten Messkonzeptes sehr kompakt und robust. Es wird in etwa die Größe eines Smartphones haben und ähnlich wie ein Blutzuckermessgerät eingesetzt. Es zeichnet sich durch einen weiten Betriebstemperaturbereich aus und ist unempfindlich gegenüber Erschütterungen. Die benötigten Teststreifen haben aufgrund des Verzichts auf enzymatische Bestandteile eine lange Lagerfähigkeit.
Im Notfall zählt jede Minute. Das mobile Blutanalysegerät mobOx kann dank KI dem Rettungsteam zu schnellen Entscheidungen verhelfen.
Sind Weiterentwicklungen des Geräts geplant? Welche Modifikationen sind denkbar?
Müller: Wir sehen mobOx als mobile Blutanalyseplattform. Aufgrund des robusten optischen Messprinzips in Kombination mit den eingesetzten KI-basierten Algorithmen ist das System sehr flexibel und leicht erweiterbar. Mittelfristig streben wir an, weitere Parameter einer klassischen Blutgasanalyse in unser System zu integrieren. In den nächsten Monaten planen wir zunächst die Erweiterung um die in der Notfallmedizin häufig benötigten Parameter pH und pCO2. Zweiteres ist der Kohlendioxidpartialdruck, der Auskunft über die Lungen- und Herzfunktion gibt. Auch die mögliche Wechselwirkung von Cyaniden, wie sie in Rauchgasen enthalten sein können, mit dem Hämoglobin werden wir in Hinblick auf einen möglichen diagnostischen Ansatz hin prüfen.
Wie sieht Ihrer Meinung nach die Notfallmedizin der Zukunft aus?
Müller: Wie in vielen anderen Bereichen sehe ich hier einen klaren Trend zur Digitalisierung. Hiermit geht insbesondere die Vernetzung verschiedener Geräte und das entsprechende Datenmanagement einher. So wird es zukünftig meiner Meinung nach selbstverständlich sein, dass dem Personal in der Notaufnahme bereits vor der Ankunft des Patienten sämtliche Diagnosedaten in digitaler Form vorliegen. Einen weiteren Trend sehe ich in KI-gestützten Assistenzsystemen, die bei der Diagnose und Therapie die Einsatzkräfte unterstützen.
Das Interview wurde geführt von Elena Blume. MEDICA.de