Die Möglichkeit, einzelne menschliche Zellen im Labor heranzuzüchten, erlaubt es Forschenden seit den 1950er Jahren, neue Wirkstoffkandidaten im Labor zu untersuchen, ohne Tests an Tieren oder sogar Menschen durchführen zu müssen. In vielen Fällen handelt es sich bei den kultivierten Zellen um Krebszellen. Dies bietet den Vorteil, dass diese in großer Zahl verfügbar sind, da sie sich potenziell unendlich oft vermehren können, führt aber auch dazu, dass die Zellen sich in vielen Eigenschaften deutlich von "gesunden“ Zellen unterscheiden. Da bei der Wirkstoffforschung Substanzen untersucht werden, die im späteren Entwicklungsverlauf auch an Tieren und Menschen getestet werden sollen, ist es von großer Bedeutung, dass die verwendeten Modellsysteme das Verhalten eines Wirkstoffes im lebenden Organismus möglichst präzise vorhersagen können. Hier setzen die Arbeiten des Teams von Claus-Michael Lehr an. Lehr ist Leiter der Abteilung Wirkstofftransport über Biologische Barrieren am HIPS und Professor für Biopharmazie und Pharmazeutische Technologie an der Universität des Saarlandes. Das HIPS ist ein Standort des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung in Zusammenarbeit mit der Universität des Saarlandes.
Die Gruppe von Claus-Michael Lehr beschäftigt sich bereits seit vielen Jahren mit der Entwicklung und Anwendung biologischer Modellsysteme, welche unterschiedliche Organe des Menschen imitieren und dadurch Untersuchungen an Tieren reduzieren und letztendlich auch ersetzen sollen. Im Fokus der aktuellen Forschungsarbeit steht die menschliche Lunge. Basierend auf der bereits 2016 publizierten Lungenepithel-Zelllinie "hAELVi“ wurde nun im Rahmen der Arbeit des Doktoranden Patrick Carius die Zelllinie "Arlo“ entwickelt. "Entstanden ist Arlo aus einer einzelnen hAELVi-Zelle, die wir durch sogenanntes Einzelzell-Printing gewonnen haben“, erklärt Dr. Nicole Schneider-Daum, leitende Wissenschaftlerin aus Lehrs Abteilung. "Das bedeutet, dass alle Zellen von einer einzelnen hAELVi-Vorläuferzelle abstammen und somit genetisch identisch sind.“ Im Labor bildet Arlo eine sehr dichte Zellschicht, welche dem menschlichen Epithel in der tiefen Lunge äußerst ähnlich ist. Darüber hinaus liefert die Zelllinie sehr reproduzierbare Ergebnisse, da es sich um eine einheitlichere Zellpopulation als beim Vorgänger handelt. Beide Zelllinien wurden künstlich immortalisiert, d.h. sie vermehren sich beliebig oft, ohne aber unerwünschte krebsähnliche Eigenschaften aufzuweisen.
Das potenzielle Einsatzgebiet von Arlo ist vielseitig: Zum einen bietet die Zelllinie eine Plattform zur Testung neuer Wirkstoffe oder Nano-Carrier, welche als Aerosol verabreicht werden sollen. Darüber hinaus kann Arlo aber in Infektionsmodellen für bakterielle oder virale Erkrankungen zum Einsatz kommen. "Diese Kombination macht unsere Entwicklung möglicherweise zu einem sehr wertvollen Tool für die Untersuchung von Infektionen mit SARS-CoV-2 und Wirkstoffen zu dessen Bekämpfung“, sagt Lehr. "Unsere Zelllinien sollen die Situation in der menschlichen Lunge so gut nachahmen, dass wir die Anzahl der notwendigen Tierversuche reduzieren und diese irgendwann sogar vollständig ersetzen können. Die Vorgänger-Zelllinie hAELVi ist seit einigen Jahren kommerziell erhältlich und wird weltweit bereits in über 50 Laboren genutzt. Das macht uns durchaus stolz und zeigt, dass wir mit unserer Forschung einen wertvollen Beitrag zur internationalen Forschungslandschaft beitragen konnten. Wir sind davon überzeugt, dass Arlo, die ab sofort ebenfalls kommerziell zur Verfügung steht, in den kommenden Jahren ähnlich gut von der Community angenommen wird und ebenfalls einen wertvollen Beitrag zu neuen Entwicklungen und Erkenntnissen liefern kann.“
In seiner Studie, an der neben Forschende der Universität des Saarlandes und des Universitätsklinikum Frankfurt auch Medizinerinnen und Mediziner der SHG Kliniken Völklingen mitwirkten, hat das Forschungsteam seine neue Zelllinie umfassend charakterisiert sowie bereits in einem SARS-CoV-2-Infektionsmodell eingesetzt. Arlo soll zukünftig auch in komplexeren Modellsystemen zum Einsatz kommen, in denen die Zelllinie mit anderen Zelltypen kombiniert wird. Dies soll es ermöglichen, Ergebnisse zu erzielen, die die tatsächliche Situation im lebenden Organismus noch besser abbilden.
MEDICA.de; Quelle: Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung