Organ-on-a-chip-Systeme: begrenzt aussagekräftig?

Organ-on-a-chip-Systeme stellen eigentlich eine große Bereicherung für die medizinische Forschung dar: An Zellkulturen in den Kammern eines Kunststoffchips können zum Beispiel Wirkstoffe getestet werden. Das vermeidet Tierversuche und erhöht die Patientensicherheit. Aber: Sie bilden den Körper nicht naturgetreu nach, sondern immer nur einige Funktionen. Sind Ergebnisse so überhaupt verwendbar?

Im Interview mit MEDICA.de spricht Prof. Thomas Korff über Möglichkeiten und Grenzen der Organ-on-a-chip-Technologien, welche Vorteile sie in der Laboranalytik bieten und welche Rolle sie in Zukunft in der medizinischen Forschung spielen könnten.

Herr Prof. Korff, wo sehen Sie die Grenzen von Organ-on-a-chip-Technologien?

Prof. Thomas Korff: Bereits Ende der neunziger Jahre, während meiner eigenen Doktorarbeit an Organoiden, habe ich erlebt, wie groß das Interesse an dieser Technologie ist, was Forscher damit erreichen und wie schnell sie Fragen beantworten können, wenn ein solches System funktioniert wie gewollt. Hier sehen wir aber auch gleich die Grenzen: Organ-on-a-chip-Systeme sind reduktionistische Modelle eines Organismus‘, also spezifisch abgestimmte Organsysteme, in denen einzelne Komponenten des Organismus‘ miteinander interagieren. Damit kann man einfache Organe und Organfunktionen schon sehr gut darstellen und auch Fragen, die sich auf einfache Krankheitsmodelle, wie Lungeninfektionen, oder die zellspezifische Wirkung von Therapeutika beziehen, beantworten. Bei komplexen, multifaktoriellen oder chronischen Erkrankungen wie Atherosklerose ist das nicht so einfach. Auch, wenn das neuronale System betroffen ist, lassen sich die Chips bisher nicht nutzen, sodass man natürlich keinerlei Schmerztherapien oder -medikamente erforschen können. Unsere Grenze ist die Komplexität: Wir können nicht den Organismus als solchen darstellen, sondern nur einzelne Organfunktionen.

Für welche Zwecke sind sie denn gut geeignet?

Korff: Entscheidend ist, dass man aufgrund des spezifischen Aufbaus sehr gut definierte Fragen beantworten kann. Zum Beispiel können mit Leber- und Nierenzellen Toxizitäts- und Stoffwechseltests durchgeführt werden: Wie schnell werden Pharmaka abgebaut, bei welchen Konzentrationen gibt es Probleme mit den Zellen, wie werden die Mittel verstoffwechselt? Teilweise werden schon Organ-Chips zur Testung von Reaktionen auf therapeutische Antikörper erprobt, die später auch am Menschen eingesetzt werden sollen.

Ein Hintergedanke hier ist natürlich auch die Vermeidung von Tierversuchen – wo sind diese denn noch unumgänglich?

Korff: Das Leid von Versuchstieren zu reduzieren oder möglichst keine Versuchstiere mehr einzusetzen, ist ethisch natürlich erstrebenswert. Wir als Menschen sind aber auch leidensfähige Wesen und deshalb müssen wir uns die Frage stellen, ob es ethisch zu vertreten wäre, ein Medikament an einem Menschen einzusetzen, bevor es nicht an einem anderen leidensfähigen Wesen getestet wurde. Die Organ-on-a-chip-Modelle können das wegen des Fehlens von komplexen neuronalen Strukturen und mentalen Fähigkeiten aber nicht leisten. Und solange die Modelle keine systemischen Reaktionen, also die eines gesamten Organismus‘, repräsentieren können, sind in diesem Moment Tierversuche in meinen Augen noch unumgänglich, weil bestimmte Wirkungen nicht in reduktionistischen Systemen erfasst werden können. Häufig schreibt hier auch der Gesetzgeber vor, Verfahren an Tieren zu testen, bevor man sie am Menschen einsetzt.

Sind Versuchsergebnisse denn überhaupt aussagekräftig, wenn Organ-on-a-chip-Systeme so reduktionistisch sind?

Korff: Bezogen auf spezifische, definierte Fragen auf jeden Fall. Die Gefahr liegt hier aber darin, Dinge zu generalisieren. Wenn ich eine Substanz in einem Organ-on-a-chip-System teste, das zum Beispiel Lungen-, Leber-, Nieren- und Darmzellen kombiniert, und ich keine schädliche Wirkung feststelle, kann ich daraus nur schließen, dass sie keine schädliche Wirkung in diesem System, an diesen Zellen hat. Ein Trugschluss wäre, abzuleiten, dass sie keinerlei Nebenwirkungen an anderen Zelltypen hätte. In Bezug auf eine vorab für das Testsystem definierte Fragestellung kann ich also eine Antwort geben. Ich kann aber keine oder nur bedingt Aussagen darüber treffen, was auf systemischer Ebene oder in einem anderen funktionellen Kontext passiert.

Wo sehen Sie letztendlich die Vorteile eines Organ-on-a-chip-Systems?

Korff: Ein Vorteil ist es, humane Zellen zu nutzen. Viele Erkenntnisse lassen sich nicht eins zu eins vom Tiermodell auf den Menschen übertragen, weil humane Zellen einfach anders reagieren, teilweise toleranter oder weniger tolerant gegenüber Medikamenten sind. Wie viel besser die Übertragbarkeit der Organ-Chip-Ergebnisse aber wirklich ist, muss erst noch gezeigt werden. Dafür benötigen wir zunächst eine grundlegende Standardisierung von Testsystemen, die, je nach Land, je nach Labor, noch extrem heterogen designt sind.

Weiterhin kann man an den Chips verschiedene spezifische und standardisierte Testverfahren anwenden, die sich relativ rasch auf eine individuelle zelluläre Analytik runterbrechen lassen. Das heißt, man kann zum Beispiel ein sehr spezifisches Profil von den Reaktionen eines bestimmten Zelltyps erstellen, wenn das System entsprechend aufgebaut ist. Im Organismus ist das sehr schwierig, weil hier immer sehr viele Zellen beteiligt sind und gleichzeitig reagieren. Aber: Je komplexer die Systeme werden, desto schwieriger werden auch die Analysen.

Welche Rolle könnten sie in der medizinischen Forschung der Zukunft spielen?

Korff: Wenn sie wirklich ausgereifter werden, könnte ich mir vorstellen, dass damit Vorhersagemodelle für Nebenwirkungen von Pharmaka auf zellulärer Ebene erstellt werden können, die auf Basis eines Tiermodells nicht möglich wären. So könnte man relativ schnell herausfinden, welche Wirkstoffkandidaten für eine klinische Testung weiterverfolgt werden können.

Welche Probleme müssten noch gelöst werden, damit die Chip-Systeme häufiger eingesetzt werden können?

Korff: Hier ist ganz klar die Standardisierung gefragt, um Ergebnisse auch vergleichen zu können. Das fängt schon bei den verwendeten Zellen an: Einige Forschungsgruppen verwenden primär kultivierte Zellen, andere Zelllinien und wieder andere versuchen, Stammzellen in bestimmte organtypische Zellen zu differenzieren. Es geht auch um Fragen wie Zusammensetzung der Nährmedien, die Lebensdauer der Zellen auf den Chips oder welche Materialien zum Beispiel beim Bioprinting verwendet werden. Das alles sind Variablen, die die Ergebnisse beeinflussen können. Noch ist es also ein weiter Weg für die Organ-Chips, um die Komplexität eines lebenden Organismus reproduzierbar abzubilden.