Was wäre, wenn im Krankenhaus Pflegekräfte entlastet und und weniger teure Bettenvorhaltung nötig wäre, ohne Abstriche bei der Patientensicherheit? Bis zu 3,5 Millionen vollstationäre Fälle pro Jahr könnten in Deutschland gleichwertig ambulant versorgt werden. Das spart Kosten, reduziert Liegezeiten und entlastet Pflegekräfte – vorausgesetzt, Kliniken, Politik und ambulante Partner gestalten Prozesse und Anreize neu. Diese Multimedia-Reportage fasst den Status quo, den Nutzen und die notwendigen Schritte zusammen.
Status Quo: Überraschend hoher stationärer Anteil
Deutschland weist im internationalen Vergleich auffällig hohe Anteile stationärer Behandlungen in zahlreichen Routineindikationen auf. Während Länder wie Dänemark oder Kanada viele einfache Eingriffe als Tagesfälle organisieren, bleiben in Deutschland große Teile dieser Eingriffe stationär. Das Ergebnis: unnötige Liegetage, knappe Bettenkapazitäten und eine hohe Belastung der Pflege- und OP-Teams. Diese Diskrepanz ist weniger eine medizinische als vielmehr eine strukturelle und anreizgetriebene Frage.
Vereinfachte Darstellung einiger Anteile zum Vergleich vollstationär durchgeführter Eingriffe in ausgewählten OECD-Ländern (Werte aus Datenjahr 2022). Einzelwerte pro Indikation; nicht kumulierbar.
Leistenbruch-OP:
Mandel-Entfernung:
Gallenblasen-Entfernung:
Anteil vollstationär durchgeführter Eingriffe in ausgewählten OECD-Ländern (in Prozent, Werte aus Datenjahr 2022)
Leistenbruch-OP
Mandel-Entfernung
Katarakt
Gallenblasen-Entfernung
PTCA (Coronar-Angioplastie)
Prostata-Entfernung
Deutschland
99,7
80,5
12,3
100,0
98,9
100,0
Niederlande*
13,5*
15,4*
0,1*
59,8*
60,6*
100,0*
Dänemark
14,1
28,0
0,5
55,0
79,0
59,4
Frankreich
26,7
50,0
2,7
55,8
91,6
94,5
Kanada
19,4
25,3
0,1
43,6
84,4
67,2
Großbritannien
25,4
23,8
0,5
47,9
75,2
81,5
Schweiz
60,3
87,8
9,7
95,7
75,2
99,1
* Werte Niederlande aus 2021.
Zur Abgrenzung der Begriffe: Hier dargestellt ist der prozentuale Anteil vollstationärer Fälle in den jeweiligen Indikationen. Die jeweils fehlenden prozentualen Anteile sind also ambulante Fälle im weiteren Sinn: Patienten, die sich einer ambulanten Operation unterziehen werden international häufig auch als sog. Tagesfälle (day cases) bezeichnet. Die Daten der OECD unterscheiden bei einigen (jedoch nicht bei allen) der aufgeführten Indikationen noch zusätzlich in „ambulanter Fall“ oder „Tagesfall“. Unabhängig davon sind beide Varianten aber davon gekennzeichnet, dass eine stationäre Aufnahme und Übernachtung in der Klinik nicht erfolgt. Besonders dieser Unterschied zur stationären Behandlung (die immer inkl. Übernachtung ist) ist für die hier präsentierten Auswertungen von Bedeutung.
Quelle: Eigene Darstellung von Prof. Dr. Jan-Marc Hodek auf Basis von Daten aus OECD 2024.
Warum Ambulantisierung wirkt: Nutzen auf einen Blick
Eine verstärkte Ambulantisierung vergleichsweise leichter Fällen wie Leistenhernien, Kniearthroskopien, Kataraktoperationen, kleinere Herzeingriffen oder im Bereich Hals-Nasen-Ohren-Operationen entlastet die stationäre Versorgung erheblich. Denn moderne, minimalinvasive Verfahren und bessere Anästhesie ermöglichen viele Eingriffe bei gleicher Qualität ambulant. Patientinnen und Patienten profitieren durch kürzere Erholungszeiten zuhause und ein geringeres Infektionsrisiko. Prof. Dr. Jan-Marc Hodek, Studiendekan Bachelor Gesundheitsökonomie an der RWU – Hochschule Ravensburg-Weingarten, erläutert im Videostatement, wie das für Kliniken weniger Liegetage, geringeren Nachtschichtbedarf und freiwerdende Fachkapazitäten für komplexere Fälle bedeutet.
Mio. stationäre Krankenhausaufenthalte könnten in auch Deutschland ambulant versorgt werden.
Praxis: So verändert sich der Klinikalltag
Ambulante Abläufe machen den Klinikalltag planbarer und wirkungsorientierter: durch feste OP-Takte, standardisierte Prä-OP- und Entlassungschecks sowie verlässliche Nachsorgewege lassen sich Durchlaufzeiten und Leerlauf in OP-Sälen deutlich reduzieren, Personalressourcen effizienter einsetzen und unnötige Überstunden vermeiden. Das senkt variable Kosten und verbessert die Patientenerfahrung.
"Ein klar strukturiertes, ambulantes OP-Setting schafft planbare Tagesabläufe und reduziert Schnittstellenprobleme. Short-Track-Strukturen ermöglichen es, Eingriffe in einem festen Takt durchzuführen und Personalressourcen gezielt einzusetzen – das sorgt für weniger Reibung und mehr Effizienz im interdisziplinären Team." Philipp Henßler Gesundheitsökonom MBA
Umsetzung in Kliniken: Was angepasst werden muss
Allerdings ist die Ambulantisierung kein reiner Abrechnungswechsel, sondern eine Prozessarbeit. Für eine erfolgreiche Umsetzung gilt:
separate ambulante Pfade und Prozessdesign (Check-in, OP, Aufwachen, Entlassung in Stunden statt Tagen);
klare Indikationskataloge und Präqualifikation der Patientinnen und Patienten;
verlässliche Nachsorgeketten, inklusive Telemedizin und klaren Eskalationspfaden;
Schulungen und Veränderungsmanagement für Klinikpersonal;
und IT-Unterstützung für Terminsteuerung, Dokumentation und telemedizinische Follow-ups.
Der Hebel Politik: Vergütung und Anschubfinanzierung
Die zentrale Bremse bleibt ökonomisch: Solange stationäre Abrechnung lukrativer ist, bleibt der Anreiz, Eingriffe stationär durchzuführen hoch. Internationale Erfahrungen zeigen, dass kurzfristige Übervergütungen, Anschubfinanzierungen oder sektorengleiche Modelle (z. B. Hybrid-DRGs) wirksame Instrumente sind, um Investitionen in ambulante Strukturen anzustoßen. Ohne solche Anpassungen bleibt das ökonomische Interesse vieler Leistungserbringer auf stationäre Abrechnung gerichtet.
Erfolgsfaktoren: Wie Ambulantisierung schnell Wirkung entfaltet
"Ambulantisierung ist kein Selbstläufer. Ohne angepasste Strukturen, verlässliche Prozesse und gesicherte Nachsorge drohen wirtschaftliche Fehlentwicklungen und Versorgungslücken – insbesondere bei älteren oder mehrfach erkrankten Patientinnen und Patienten. Entscheidend ist, das gesamte Setting konsequent auf ambulante Logik auszurichten."
Philipp Henßler Gesundheitsökonom MBA
Ambulante OPs sind kein Selbstzweck, sondern ein praktikabler Hebel, um Versorgung effizienter und patientenfreundlicher zu gestalten, ohne Zugeständnisse bei Qualität und Sicherheit. Entscheidend ist weniger die Vielzahl einzelner Maßnahmen als ihre Verlässlichkeit: passende finanzielle Anreize, eine abgestimmte operative Umsetzung und sichere Nachsorge.
Wenn Politik, Klinikmanagement und ambulante Versorgungspartner diese Schritte gemeinsam gehen, lässt sich kurzfristig Entlastung schaffen und langfristig eine resilientere Versorgungsstruktur etablieren.
Autorin: Melanie Prüser | Redaktion MEDICA.de
Seit 2019 schreibt Melanie Prüser für MEDICA.de über die spannende Schnittstelle von Medizin und Technologie. Sie ist stets auf der Suche nach den Geschichten hinter Geräten und Anwendungen, um aufzuzeigen, wie Innovationen unmittelbar den Alltag von medizinischen Fachkräften und Betroffenen verändern.