Strom gegen Covid-19: die intelligente elektrische Pille
Strom gegen Covid-19: die intelligente elektrische Pille
Interview mit Prof. Eugenijus Kaniusas, Institut für Biomedizinische Elektronik, Technische Universität Wien
28/11/2022
Die Stimulation des Vagusnervs in der Ohrmuschel hat eine entzündungshemmende Wirkung bei schweren Covid-19-Verläufen. Das haben Prof. Eugenijus Kaniusas und seine Forschungspartner 2020 bereits vorausgesagt. Jetzt konnten sie diese Prognose 2022 in einer klinischen Studie bestätigen.
Der Elektrotechniker Prof. Eugenijus Kaniusas hat schon mehrfach gezeigt, dass die aurikuläre Elektrostimulation des Vagusnervs (aVNS) funktioniert und im therapeutischen Einsatz viele Chancen bietet. Wie er auf die Idee gekommen ist, diese Behandlungsmethode nun beim SARS-2-Virus zu testen, darüber hat er mit MEDICA.de gesprochen.
Prof. Eugenijus Kaniusas
Prof. Kaniusas, wozu ist die Vagusnerv-Stimulation überhaupt gut?
Prof. Eugenijus Kaniusas: Der Körper wird vom Gehirn gesteuert, wobei das Gehirn nicht nur über die Steuerleitungen verfügt, die zu den jeweiligen Organen führen, sondern auch über sensorische Leitungen. Dadurch weiß das Gehirn genau, wie es um das Organ und seine Funktion steht, und kann es aufgrund dieser Rückführung optimal modulieren. Ein Beispiel: Barorezeptoren melden den aktuellen Blutdruck ans Gehirn. Das Gehirn kann daraufhin den optimalen Blutdruck einstellen, indem die Gefäße geweitet oder geschrumpft werden beziehungsweise der Herzschlag verlangsamt oder beschleunigt wird. Überraschenderweise ist es der Vagusnerv, der über die meisten sensorischen Leitungen verfügt. Er ist dafür verantwortlich, dass das Gehirn Bescheid weiß.
Wir haben jedoch festgestellt, dass diese sensorische Leitung bei chronischen Erkrankungen wie bei überschießender Entzündung fehlt. Das Gehirn weiß dann nicht mehr, in welche Richtung es auszuschlagen hat. An dieser Stelle kommt die Elektrostimulation des sensorischen Vagusnervs ins Spiel. Indem wir ihn in solchen Fällen aktiv reizen, ersetzen wir die verlorene Feedbackleitung. Dieser Ersatz ist nicht nur temporärer Natur – besteht also nicht nur während der Stimulation –, sondern die sensorische Leitung baut sich über die Zeit wieder auf. Sie regeneriert sich und das Gehirn kann die notwendigen Vorgänge wieder optimal über die Steuer- und sensorischen Leitungen steuern. Die Stimulation stellt so die Balance zwischen der initial schützenden Entzündungsreaktion und den regenerativen Prozessen wieder her.
Individualisierte aurikuläre Vagusnerv-Stimulation, so zeigte die Studie an der TU Wien, kann einer Covid-Erkrankung entgegenwirken. Erfolgt die Elektrostimulation zum individuell richtigen Zeitpunkt kann eine Über- sowie Unterstimulation verhindert werden.
Warum widmen Sie sich im Speziellen der aVNS?
Kaniusas: Im Ohr gibt es die sensorischen Vagusnerv-Endigungen. Durch sie besteht eine direkte Leitung in den Hirnstamm, zum Nucleus tractus solitarius. Bildhaft gesprochen ist es eine Art USB-Verbindung direkt ins Hirn, direkt in die Steuerzentrale des Menschen. Im Ohr liegen die afferenten Enden des Vagusnervs so nah an der Oberfläche wie sonst nur im Mund. Aber im Mund Elektroden zu tragen, wäre alles andere als angenehm.
Und warum ist die aVNS ideal zur Behandlung schwerer Covid-Verläufe?
Prof. Eugenijus Kaniusas: Weil die Stimulation insbesondere bei schweren Covid-Fällen den systemischen Heilungsprozess – das heißt den gesamten Körper betreffend – unterstützt und so vor massiven Schädigungen durch die überschießende Entzündungsreaktion bewahrt. Um das nachzuweisen, haben wir eng mit dem Klinikum Favoriten, der Medizinischen Universität Wien, dem Health Service Center der Wiener Privatklinik, der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien und der Immunologischen Tagesklinik Wien zusammengearbeitet. Wir haben den Einsatz von aVNS an Patientinnen und Patienten untersucht, die schwer an Corona erkrankt waren und kurz vor einer künstlichen Beatmung standen. Die Elektrostimulation des aurikulären Vagusnervs konnte die ausufernde Entzündungsreaktion bei ihnen nicht nur aufhalten, sie konnte dieser sogar entgegenwirken.
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Ob für Muskeln oder Nerven – im richtigen Maß eingesetzt kann eine Elektrostimulation sehr hilfreich sein. Der Vagusnerv im Speziellen ist die wichtigste sensorische Leitung im menschlichen Körper. Ist er nicht voll funktionsfähig, verliert unser Gehirn eine wichtige Feedbackquelle.
Wie haben wir uns die Stimulation vorzustellen?
Prof. Eugenijus Kaniusas: Bei dieser minimalinvasiven Methode werden Miniaturnadeln 1 bis 1,5 Millimeter tief in das Ohr in der Nähe des Vagusnervs eingestochen und unter Spannung gesetzt. Der Spannungsstoß löst einen Aktivierungsimpuls entlang des Vagusnervs aus, der über die Nervenbahnen ans Gehirn weitergeleitet wird.
Wo wird die Vagusnerv-Elektrostimulation ansonsten bereits therapeutisch genutzt?
Prof. Eugenijus Kaniusas: Die Vagusnerv-Stimulation kommt in der Schmerz-, Epilepsie- und Depressionstherapie und bei kardiovaskulären Erkrankungen bereits zum Einsatz. Aber sie bietet darüber hinaus ein riesiges Anwendungsfeld, da die Therapie – so wie auch der Vagusnerv – systemische Ganzkörpereffekte auslöst. Wir – vor allem in langjähriger Kooperation mit Dr. Constantin Szeles von der Medizinischen Universität Wien – haben den wissenschaftlichen Beweis erbracht, dass sie funktioniert und positive Effekte hat.
Wie lange arbeiten Sie schon am Thema?
Prof. Eugenijus Kaniusas: Ich arbeite an der Vagusnerv-Stimulation bereits seit fünfzehn Jahren. Es im wahrsten Sinne des Wortes ein hochspannendes Thema, das Geist und Herz erfüllt und Menschen hilft. Denn wenn man sieht, dass die neuartigen Therapieansätze helfen, ist das eine Genugtuung für die Forschenden und eine wesentliche Motivation für die Zukunft. Unser aktuelles aVNS-System hört den gemessenen Biosignalen durch den neu integrierten geschlossenen Regelkreis zu und entsendet genau zum richtigen Zeitpunkt seinen Reiz. Wie eine intelligente elektrische Pille. Damit ist ein wichtiger Schritt in Richtung Personalisierung gelungen. Dadurch erwarten wir noch bessere therapeutische Erfolge, einen geringeren Stromverbrauch und vor allem mehr Akzeptanz seitens der Anwenderinnen und Anwender.
Das Interview wurde geführt von Silke Meny. MEDICA.de