Die Dresdner Forschenden gingen der Frage nach, wie sich das Leben in einer reichhaltigen Erfahrungswelt auf die Schaltkreise des Gehirns auswirkt. Dazu nutzten sie einen sogenannten Neurochip, um mit mehr als 4.000 Elektroden die elektrische Aktivität von Hirnzellen zu messen. Das "Feuern" Tausender Neurone konnte so gleichzeitig registriert werden. Das untersuchte Areal – viel kleiner als ein menschlicher Fingernagel – umfasste den gesamten Hippocampus einer Maus. Diese Hirnstruktur, die auch beim Menschen vorkommt, spielt für das Lernen und das Gedächtnis eine entscheidende Rolle. Bei Alzheimer und anderen Demenzerkrankungen wird sie stark beschädigt. Für ihre Studie verglichen die Forscher das Hirngewebe von Mäusen, die unterschiedlich aufgewachsen waren: Eine Gruppe lebte in Standardbehausungen ohne besondere Anreize, die anderen Tiere waren in einem sogenannten Enriched Environment, also in einer "angereicherten Umgebung“, untergebracht: Diese beinhaltete veränderbare Spielzeuge und ein Labyrinth aus Plastikröhren.
"Die Ergebnisse haben unsere Erwartungen bei weitem übertroffen“, sagt Studienleiter Dr. Hayder Amin. Der Experte für Neuroelektronik und "Computational Neuroscience“ führt am DZNE eine Forschungsgruppe und entwickelte gemeinsam mit seinem Team die Technologie und Analysewerkzeuge, die in der aktuellen Studie zum Einsatz kamen. "Vereinfacht kann man sagen, dass die Nervenzellen von Mäusen aus der reizvollen Umgebung viel stärker miteinander verknüpft waren als die von Mäusen, die in Standardhaltung aufwuchsen. Unabhängig davon, welchen Parameter wir uns angeschaut haben, hat eine reichere Erfahrungswelt die Verbindungen in den neuronalen Netzen buchstäblich verstärkt. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein aktives und abwechslungsreiches Leben das Gehirn auf ganz neue Grundlagen stellt.“
Prof. Gerd Kempermann, der die aktuelle Studie mit leitete und der am DZNE und am Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) der TU Dresden forscht, stimmt zu. Der Neurowissenschaftler befasst sich schon länger mit der Frage, wie körperliche und geistige Aktivität dem Gehirn helfen, sich gegen das Altern und neurodegenerative Erkrankungen zu wappnen: "Alles, was wir aus diesem Bereich bislang wussten, stammt entweder aus Studien mit Einzel-Elektroden oder von bildgebenden Methoden wie der Magnetresonanztomographie. Die räumliche und zeitliche Auflösung dieser Verfahren ist viel gröber als unser Ansatz. Wir können die Schaltkreise im wahrsten Sinne des Wortes bis auf die Ebene der einzelnen Zellen beim Arbeiten beobachten. Aus unseren Messdaten haben wir eine riesige Menge an Details über die Netzwerkdynamik in Raum und Zeit extrahieren können. Dafür haben wir modernste computergestützte Hilfsmittel eingesetzt.“
"Wir haben eine Fülle von Daten ermittelt, die den Nutzen eines durch reiche Erfahrungen geprägten Gehirns verdeutlichen. Dies ebnet den Weg zum Verständnis der Rolle sogenannter Neuroplastizität und Reservebildung bei der Bekämpfung neurodegenerativer Erkrankungen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf neuartige Präventionsstrategien“, so Kempermann weiter. "Außerdem wird dies Einblicke in Krankheitsprozesse ermöglichen, die mit Neurodegeneration einhergehen. Das betrifft zum Beispiel Störungen in den Netzwerken des Gehirns.“
"Indem wir entschlüsseln, wie Erfahrungen das Netzwerk und die Dynamik des Gehirns gestalten, erweitern wir nicht nur die Grenzen der Hirnforschung“, sagt Amin. "Künstliche Intelligenz wird davon inspiriert, wie das Gehirn Informationen verarbeitet. Vor diesem Hintergrund könnten unsere Werkzeuge und die Erkenntnisse, die sich damit generieren lassen, den Weg für neuartige Algorithmen des maschinellen Lernens bereiten."
MEDICA.de; Quelle: Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE)