"Das ist eine Herausforderung für Theoriebildung und numerische Simulationen auf diesem Gebiet“, sagt Marques. Die Ergebnisse sind soeben in den Proceedings of the Academy of Sciences of the United States of America (PNAS) erschienen. Sie könnten dabei helfen, den Transport von Wirkstoffen in Zellen zu verbessern.
Elektrische Gleichspannungs-Felder ab einer bestimmten Intensität stören die Organisation der Lipide genannten, fettähnlichen Moleküle, die in doppelter Schichtung – zusammengelagert als eine Art Flüssigkristall – die Grundstruktur biologischer Membranen bilden. Durch die so entstehenden, meist nur für sehr kurze Zeit stabilen Elektroporen können Wasser und darin gelöste Substanzen aus der Umgebung in eine Zelle eindringen, also etwa Medikamente oder andere Wirkstoffe bis hin zu RNA oder DNA.
Weil die Doppelschicht aus Lipiden sehr dünn ist, nämlich nur fünf millionstel Millimeter, sind keine sehr hohen Spannungen (Volt) vonnöten, um sehr hohe Feldstärken (Volt/m) zu erzeugen. So beträgt schon bei einer Spannung von 0.1 Volt über die Membran die Feldstärke 20 Millionen Volt/m. In Luft beispielsweise kommt es schon bei drei Millionen Volt/m zur Funkenentladung. Es muss sich hierbei allerdings um Gleichspannung handeln; Wechselfelder im Megahertz-Gigahertz-Bereich, wie sie etwa von Mobiltelefonen erzeugt werden, verursachen keine Poren. Das Verfahren ist bekannt – allerdings besteht noch immer der Bedarf, die Elektroporation von Zellmembranen für verschiedene Zwecke zu optimieren, etwa um Genmaterial für eine Gentherapie einzuschleusen. Dazu ist es wichtig, den Mechanismus der Porenbildung unter elektrischen Feldern genau zu verstehen.
Ein theoretisches Standardmodell der Elektroporation aus den 1970er Jahren nimmt an, dass das elektrische Feld Druck auf die Lipide ausübt, wodurch die Wahrscheinlichkeit der Porenbildung zunimmt. Es konnte jedoch bisher experimentell nur wenig getestet werden. Dies liegt zum einen an der Schwierigkeit, die Entstehung von Elektroporen direkt zu erfassen, zum anderen an der Notwendigkeit, sehr viele solcher Experimente durchführen zu müssen, um zu statistisch haltbaren Aussagen zu kommen. Denn anders als durch Proteine gebildete Poren, zeigen Elektroporen ein sehr vielgestaltiges, wenig stereotypes Verhalten.
Eine Methode, die in der Lage ist, die Bildung von Poren sehr genau und mit hoher Zeitauflösung zu erfassen, ist die elektrische Messung des Ionenstroms. Ionen sind positiv oder negativ geladene Bestandteile der Salze, die in allen biologischen Flüssigkeiten vorhanden sind, also auch innerhalb und außerhalb der Zelle. Sie können intakte Membranen praktisch nicht durchdringen, werden aber, sobald sich eine Pore öffnet, im elektrischen Feld durch dieselbe transportiert. Dieser Transport geladener Teilchen lässt sich mit hoch empfindlichen Verstärkern als winziger elektrischer Strom von einigen Milliardstel bis Millionstel Ampere messen. Dazu werden über winzigen Öffnungen von rund 0,1 Millimeter Durchmesser in dünnen Teflonlagen künstliche Lipiddoppelschichten erzeugt und zwischen zwei Elektroden gebracht. Diese Technik der Membranausbildung ist sehr störanfällig – es entsteht immer nur eine einzige Membran, die leicht reißt, insbesondere bei Versuchen mit höheren Spannungen.
Für Ihre Versuche verwendete die Arbeitsgruppe nun einen Mikrochip mit vielen Öffnungen, über die mit vereinfachten Verfahren sehr schnell und wiederholbar deutlich stabilere Lipidschichten erzeugt werden können. Dieser sogenannte Mikroelektroden-Kavitäten-Array (MECA) ist eine Entwicklung des Arbeitskreises von Jan Behrends und wird von dem 2014 ausgegründeten Freiburger Unternehmen Ionera Technologies GmbH hergestellt und kommerziell verfügbar gemacht.
Mithilfe dieses Geräts war es jetzt der Doktorandin Eulalie Lafarge vom Institut Charles Sadron der Université de Strasbourg sowie Dr. Ekaterina Zaitseva aus der Freiburger Arbeitsgruppe möglich, in relativ kurzer Zeit hunderte von Membranen zu erzeugen und die Porenbildung in Abhängigkeit von der Stärke des Gleichspannungsfeldes zu messen und zu quantifizieren. Hier zeigte sich, dass sich – im Gegensatz zur Voraussage des alten Standardmodells – die Energiebarriere für die Porenbildung nicht mit dem Quadrat der Feldstärke, sondern proportional zur Feldstärke verringert. Das heißt, eine Verdopplung der Feldstärke reduziert die Energiebarriere nur um die Hälfte, nicht um das Vierfache. Dies deutet auf einen grundsätzlich anderen Mechanismus hin: eine Destabilisierung der Grenzfläche zwischen Lipid und Wasser aufgrund einer Reorientierung der Wassermoleküle im elektrischen Feld.
Dieses Ergebnis wurde auch für Membranen bestätigt, deren Lipide in unterschiedlichem Maße oxidiert waren. Das ist deshalb von Interesse, weil Lipidoxidation ein natürlicher Vorgang bei der Regulation der Funktion von Zellmembranen ist und sowohl bei der natürlichen Alterung des Organismus als auch möglicherweise bei Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer eine Rolle spielt. "Gerade angesichts der medizinischen Bedeutung wollen wir das Thema unter Einschluss auch optischer Methoden weiter verfolgen und so zu einem wirklichen Verständnis dieses wichtigen Phänomens gelangen“, so Behrends.
MEDICA.de; Quelle: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau