Wie weit sind virtuelle Patienten bislang in Deutschland verbreitet?
Hege: Durch die Corona-Pandemie ist die Nachfrage zur Nutzung von virtuellen Patienten enorm gestiegen – teilweise hatten die Studierenden überhaupt keinen Patientenkontakt mehr. Dadurch haben viele Fakultäten virtuelle Patienten vermehrt eingesetzt. Die Anwendung erfolgte jedoch lediglich in einzelnen Fachgebieten – was dabei oft fehlt, ist ein Gesamtkonzept, um Studierende mit virtuellen Patienten durch das gesamte Curriculum zu begleiten und sie longitudinal vorzubereiten.
Kann ein virtueller Patient einen „realen“ Patienten ersetzen?
Hege: Nein. Sie dienen der Vorbereitung auf den echten Patientenkontakt. Am besten funktioniert das mit der Kombination dreier Komponenten: dem Lernen an virtuellen Patienten, am Krankenbett und an Simulationspatienten. Mit dieser langsamen Heranführung an die Realität kann man die kognitiven Prozesse der Studierenden trainieren, sodass sie sich später im echten Patientenkontakt näher auf den Patienten selbst konzentrieren können. Denn diesen menschlichen Aspekt kann man mit virtuellen Patienten nicht abbilden.
Erfahren Sie, dass Studierende durch die Übung an virtuellen Patienten mit weniger Leistungsdruck zu kämpfen haben?
Hege: Selbst in einer einfachen Lernumgebung mit virtuellen Patienten merken wir, dass man auch nur mit ganz kleinen Änderungen den Arbeitsdruck oder die Komplexität für die Studierenden erhöhen kann. Wenn man den virtuellen Patienten beispielsweise ein bisschen unfreundlicher oder aggressiver gestaltet, steigt sofort die Schwierigkeit seiner Behandlung. Es gibt also viele Möglichkeiten, die Komplexität zu regulieren.
Momentan arbeiten wir daran, dass man diese Steuerung auch in Echtzeit vornehmen kann. Bislang legen wir das Patientenkollektiv im Voraus fest. Dabei beschäftigen wir uns aber immer mehr mit dem Thema Learning Analytics. So laufen bereits erste Studien dazu, ob wir das, was die Studierenden an den virtuellen Patienten vornehmen, nutzen können, um die Komplexität der Übung zu erhöhen.
Reicht das Lernen an virtuellen Patienten Ihrer Meinung nach aus, um Studierende auf das Berufsleben vorzubereiten?
Hege: Ich finde die Übung an virtuellen Patienten als Zusatz sinnvoll. Das soll nicht heißen, dass Studierende in den ersten Jahren nur anhand von virtuellen Patienten lernen sollen und erst später mit realen Patienten. Meiner Meinung nach könnte man es im ersten Semester schon kombinieren, die kognitiven Prozesse anhand von virtuellen Patienten zu trainieren und gleichzeitig für echten Patientenkontakt zu sorgen. Hier können sich die Studierenden mehr auf die Kommunikation konzentrieren und üben, auf Augenhöhe und respektvoll miteinander umzugehen.
Was denken Sie, wie ein Medizinstudium in diesem Zusammenhang in Zukunft aufgestellt sein wird?
Hege: Ich gehe davon aus, dass sich die Einsatzmöglichkeiten von virtuellen Patienten weiterentwickeln werden. Dadurch kann das gesamte Medizinstudium mehr auf die Lernenden zentriert werden. Meiner Meinung nach könnte man es den Studierenden selbst überlassen, mit wie vielen virtuellen Patienten sie sich vorbereiten möchten und wann sie sich bereit dazu fühlen, in den realen Patientenkontakt überzugehen.